Kurz bevor der 46-jährige Robert Bowers am vergangenen Samstag in die Lebensbaum-Synagoge in Pittsburgh ging und mit einem Sturmgewehr elf Menschen ermordete, setzte er einen Tweet ab. Darin heißt es: „HIAS bringt gerne Invasoren in unser Land, die unsere Menschen töten. Ich kann nicht länger zusehen, wie mein Volk abgeschlachtet wird. Ich gehe rein.“
HIAS ist die Abkürzung für „Hebrew Immigrant Aid Society“. Die 1881 in Manhattan gegründete Organisation half Hunderttausenden von Juden, die in der Sowjetunion und Osteuropa verfolgt und von Pogromen bedroht wurden. Längst hat sie ihre Arbeit auf Flüchtlinge und Asylsuchende aus der ganzen Welt ausgedehnt. Für die Schutzsuchenden – ob Buddhisten aus Südostasien oder fromme Muslime aus Nahost – ist alles neu: wie man in den USA eine Wohnung bekommt, eine Sozialversicherungsnummer, sich mit öffentlichen Verkehrsmitteln fortbewegt. HIAS-Präsident Mark Hetfield sagt es so: „Früher hießen wir Flüchtlinge willkommen, weil sie Juden waren. Heute heißen wir Flüchtlinge willkommen, weil wir Juden sind.“
Zwei Tage nach dem tödlichsten antisemitischen Anschlag in der amerikanischen Geschichte fand außerhalb der Lebensbaum-Synagoge ein Gedenkgottesdienst statt. Mehrere Gruppen sammelten Spenden, um den Familien der Opfer zu helfen, darunter auch zwei muslimische Organisationen, die mehr als 130.000 Dollar gesammelt hatten. Eine davon spendete bereits letztes Jahr 136.000 Dollar für die Renovierung jüdischer Grabsteine, die in St. Louis und Philadelphia geschändet worden waren.
Ebenfalls zur Unterstützung der Hinterbliebenen der Opfer von Pittsburgh aufgerufen hat Shay Khatiri, der vor vier Jahren aus dem Iran nach Amerika eingewandert war. Am Montagnachmittag hatte seine „GoFundMe"-Kampagne bereits 680.000 Dollar eingenommen, als Ziel werden eine Million Dollar avisiert. Zu den Spendern gehören „Steins und Bergs und Mohammeds“, sagt Khatiri. Alle sollen sich gegen den Hass vereinen, „ob Einwanderer, Eingeborene, Juden, Atheisten, Buddhisten, Hindi, Christen, Muslime“.
Erinnerungen an Charlottesville in Virginia werden wach
Auch US-Präsident Donald Trump spricht oft über Gefahren durch Invasoren, die es abzuwenden gelte. Aktuell hat er angekündigt, 800 Soldaten an die Grenze zu Mexiko zu entsenden, um den Marsch Tausender Migranten aus Zentralamerika aufzuhalten. „Das ist eine Invasion unseres Landes, unser Militär wartet auf euch!“, twitterte Trump. Am Dienstag wurde er, begleitet von Ehefrau Melania Trump, in Pittsburgh erwartet. Gegen seinen Besuch gab es Proteste. William Peduto, der Bürgermeister von Pittsburgh, bat um eine Verschiebung, bis alle Opfer beerdigt seien. Jüdische Vertreter beschuldigten Trump, die „wachsende weiße nationalistische Bewegung“ durch seine Rhetorik ermutigt zu haben.
Erinnerungen an Charlottesville in Virginia werden wach. Dort waren 2017 Neonazis mit Hakenkreuzfahnen und antisemitischen Parolen durch die Straßen gezogen und hatten antisemitische Parolen skandiert. Trump machte erst beide Seiten, Demonstranten und Gegendemonstranten, für die Gewalt verantwortlich, bei der ein Mensch ums Leben gekommen war, dann verurteilte er die Rechtsextremen, ruderte aber anschließend wieder zurück.
Auch diesmal weist er alle Vorwürfe zurück. Für die vergiftete Atmosphäre im Land seien die Medien mit ihrer parteiischen Propaganda verantwortlich. Am Montag bezeichnete er sie erneut als „die wahren Volksfeinde“. Ob der Präsident seinen Ton nicht mäßigen wolle nach diesem verheerenden Anschlag, wurde die Sprecherin des Weißen Hauses, Sarah Huckabee Sanders, gefragt. „Der Präsident verteidigt sich nur gegen Angriffe, und er wird zurückkämpfen“, lautete ihre Antwort. Es sei absurd, ihm Antisemitismus zu unterstellen, denn eine seiner Töchter sei Jüdin und sein Schwiegersohn, Jared Kushner, stamme aus einer Familie von Holocaust-Überlebenden. Der republikanische Senator Lindsey Graham meint, aufgrund Trumps proisraelischer Politik könne der Präsident gar kein Antisemit sein.
Der Attentäter von Pittsburgh war ein weißer, antisemitischer Amerikaner. Muslimische Organisationen sammelten Geld für die Angehörigen der Opfer.
Sawsan Chebli und Raed Saleh gegen Antisemitismus
Ein Schwenk nach Berlin. Vielleicht ist es auch in Deutschland längst normal, dass sich Muslime für Juden und Juden für Muslime einsetzen. Zwei der prominentesten SPD-Politiker der Stadt, Sawsan Chebli und Raed Saleh, sind fromme Muslime, stammen aus ursprünglich palästinensischen Familien und engagieren sich häufig gegen Antisemitismus.
Chebli sagte 2017 im Gespräch mit der „Welt“: „Genauso wie Muslime als Minderheit erwarten, dass andere sich für sie einsetzen, wenn sie diskriminiert oder angegriffen werden, müssen sie ihre Stimme viel lauter erheben, wenn Juden in unserem Land bedroht werden. Der Kampf gegen Antisemitismus muss auch ihr Kampf sein.“ Einiges Aufsehen erregte die Staatssekretärin mit dem Vorschlag, den Besuch einer KZ-Gedenkstätte zur Pflicht zu machen.
Saleh, Berlins SPD-Fraktionschef, schrieb im Tagesspiegel unter der Überschrift „Die Islamhasser von heute sind die Antisemiten von morgen“, der Antisemitismus unter Flüchtlingen dürfe genau so wenig geduldet werden wie jener unter „alteingesessenen Deutschen“. Anders als andere Repräsentanten des rot-rot-grünen Senats fordert Saleh einen Antisemitismusbeauftragten für Berlin.
Vor 15 Jahren gründete Aycan Demirel, der aus einer säkular-sozialistischen Familie aus der Schwarzmeerregion stammt, die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA). Inzwischen hat sie 30 festangestellte Mitarbeiter an vier Standorten. Die KIga kämpft besonders gegen den Antisemitismus unter Migranten aus arabischen Ländern. Da werde oft „ganz offen der Holocaust geleugnet, Bewunderung für die Nazis ausgedrückt und gegen Israel gehetzt“, sagt Demirel. Hier arbeiten Muslime, aber auch Christen, Juden und Konfessionslose.
Ignatz Bubis war immer der erste, der seine Stimme erhob
Nach dem Angriff auf zwei Kippa tragende Männer lud Berlins jüdische Gemeinde zu einer Veranstaltung unter dem Motto „Berlin trägt Kippa“. Unterstützt wurde sie von der Türkischen Gemeinde in Deutschland und dem Zentralrat der Muslime. Der Vorsitzende, Aiman Mazyek, sagte: „Wenn Juden angegriffen werden wegen ihres Aussehens, weil sie eine Kippa tragen oder einen Davidstern – dann ist unsere Gesellschaft angegriffen.“
Es gibt Dutzende solcher Beispiele, auch in die andere Richtung. Als Anfang der 90er Jahre in Rostock, Hoyerswerda und Solingen rechtsextremistische Anschläge auf Ausländer verübt wurden, war der erste und entschiedenste, der seine Stimme erhob, Ignatz Bubis, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland. Wenn Moscheen in Brand gesteckt werden, über die Beschneidung oder das Schächten debattiert wird, ziehen Juden und Muslime an einem Strang.