Die Muskeln des Mannes spannen sich unter dem Sakko. Er blickt ins Publikum, schätzt die Lage ab. Er sieht die junge Frau in schwarzem Hijab, die erregt redet. Er sieht auch den jungen Mann, dem eben das Mikrofon entzogen wurde. In den anderen Ecken des Zimmers seine Kollegen, alle mit Jackett und Knopf im Ohr. Ein paar Meter neben ihm steht eine kleine Frau mit Kurzhaarschnitt und rot-schwarzer Kastenbrille. Ihretwegen ist er da. Es ist Seyran Ateş, die erste Imamin Deutschlands und Gründerin der liberalen Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Berlin, in der Männer und Frauen gemeinsam beten und homosexuelle Muslime willkommen sind. Der Mann ist ihr Personenschützer. Wenn er sich bewegt, blitzt die Waffe an seiner Flanke.
Ateş übertönt die junge Muslima im Saalbau Bornheim. „Ich mache nicht Ihren Islam schlecht, sondern den, der Vierjährigen ein Kopftuch aufsetzt“, ruft sie. Wer ihr Auftreten erlebt, glaubt nicht, dass sie Schutz braucht. Doch Ateş, die in Berlin Anwältin ist, wurde einmal fast ermordet, und täglich erreichen sie neue Todesdrohungen, weil sie angeblich den Islam verhöhnt. Auch an diesem Freitagabend, an dem sie auf einer Veranstaltung der Partei von Bernd Lucke, den Liberal-Konservativen Reformern, einen Vortrag über Ehrenmorde, Kinderkopftuch und Zwangsehe hält, brodelt es im Saal öfter.
Ateş lebt einen Islam, wie er vielen im Westen gefällt. Sie ist sehr liberal, perfekt integriert, spricht hervorragend Deutsch. Sie ist Feministin der achtziger Jahre, sagt die Frau mit türkischer Mutter und kurdischem Vater von sich selbst. „Ich kämpfe nicht gegen den Islam, sondern gegen das Patriarchat.“ Denn ihrer Meinung nach gibt der Islam nicht zwingend die Rechtfertigung für die hervorgehobene Stellung des Mannes oder für Gewalt. Klar, es gebe den Islam, der Terror und Hass predige. „Da können wir nicht sagen, die Attentäter haben nichts mit dem Islam zu tun, wenn sie vorher in einer Moschee waren.“ Doch es gebe auch friedliche Muslime, die sich aber zu Wort melden müssten.
„Terre des Femmes“
Ein wichtiges Thema für Ateş ist das Kopftuch. Mit der Frauenrechtsorganisation „Terre des Femmes“ fordert sie ein Kopftuchverbot für Mädchen. An keiner Stelle des Korans stehe das Gebot, eines zu tragen, meint sie. Das sieht die junge Frau mit Hijab, diesem engen schwarzen Kopftuch, das auch den Hals bedeckt, anders. In Sunna und Koran sei das Bedeckungsgebot festgeschrieben, und wer sich nicht dran halte, sei auch kein Muslim. Ateş erklärt, dass sie erwachsenen Frauen nicht das Kopftuch wegnehmen und ihre Sichtweise des Islams nicht allen anderen aufzwingen will. „Aber Kinder zu verhüllen ist eine Sexualisierung, gegen die ich mich wehre.“ Eine Ärztin aus Fechenheim mit weißem Kopftuch meint daraufhin, dass sie gerade das Gegenteil empfinde – durch das Bedecken werde sie weniger als Sexobjekt gesehen. Laut Ateş wird aber verhüllt, weil die Männer nicht wollen, das andere „ihre“ Frauen sehen. Dass ausgerechnet eine Feministin die Sichtweise der Männer als Argument heranzieht und die Überzeugung einer Frau daneben nicht gelten lässt, mag verwundern. Doch Ateş will um jeden Preis die schützen, die sich nicht aus freien Stücken für das Kopftuch entscheiden.
Nach dem Vortrag herrscht bei einigen Muslimen aus dem Publikum Unverständnis. Am schlimmsten findet die Frau mit Hijab, dass Medien und Gesellschaft nur einen solchen Islam billigten, wie ihn Ateş lebe. „Ich werde auf der Straße angefeindet, weil ich Kopftuch trage“, erzählt sie. Solle sie ihrer kleinen Tochter verbieten, Hijab zu tragen, wenn die das doch wolle, vielleicht, weil sie ihre Mutter nachahmen möchte? Sie unterstützt weder den Terror, noch will sie, dass Frauen unterjocht werden. „In der islamischen Welt haben wir immerhin seit mehr als 1000 Jahren Wahlrecht“, sagt sie trotzig. Doch sie fürchtet sich davor, dass für ihre konservative Auslegung kein Platz mehr bleibe. Ateş ist derweil mit ihren Personenschützern aufgebrochen. „Lassen Sie mich doch eine verrückte Frau sein“, hat sie zu ihren Kritikern noch gesagt. Doch für ihre liberale Position gibt es wenig Toleranz.