Der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul (CDU) ist nicht dafür bekannt, zu dramatisieren. Umso beunruhigender war, was er vergangene Woche über Sief Allah H. äußerte. Der Tunesier, den Spezialkräfte der Polizei Mitte Juni im Kölner Stadtteil Chorweiler festgenommen hatte, sei kurz davor gewesen, einen verheerenden Giftanschlag mit einer Rizinbombe zu begehen. „Der Mann war fertig mit seinen Vorbereitungen“, sagte Reul. „Es hätte der schlimmste Anschlag in Europa werden können, im schlimmsten Fall mit Tausenden Todesopfern.“
Am Donnerstag hat Reul dem Innenausschuss des nordrhein-westfälischen Landtags nun weitere Einzelheiten über den ersten Fall vorgelegt, „bei dem ein dschihadistische motivierter Täter biologische Waffen in Deutschland hergestellt hat“, wie es in seinem schriftlichen Bericht heißt. Anhand des acht Seiten umfassenden Dokuments und bereits bekannter Informationen aus Sicherheitskreisen lässt sich nun nachzeichnen, wie der Tunesier ins Visier der Sicherheitsbehörden geriet. Im Oktober 2015 heiratete Seif H. die deutsche Staatsbürgerin Jasmin D. in seiner Heimat. H. hatte die 17 Jahre ältere, zum Islam konvertierte Frau über den Internetdienst Facebook kennengelernt. Ende November 2016 reiste er mit einem Visum zur Familienzusammenführung legal nach Deutschland ein. Gleichwohl begann der unstete Mann schon wenig später, seine Ausreise zu planen. Zweimal versuchte er nach Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden vergeblich, über die Türkei nach Syrien zu gelangen. Die Ermittler vermuten, dass sich H., der schon in seiner Heimat in salafistischen Kreisen verkehrt haben soll, der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) anzuschließen wollte. Seither observierte ihn der Verfassungsschutz. Das Polizeipräsidium Köln hatte H. seit Mitte Dezember auf dem Schirm. Anlass dafür war, dass der Tunesier beim Ausländeramt der Stadt Köln seinen Reisepass als verloren gemeldet hatte. Aus Erfahrung wissen die Ermittler, dass Islamisten ihre Papiere gezielt „verlieren“, um verräterische Aus- und Einreisestempel zu vernichten. Also legten die Staatsschützer einen „Überprüfungsvorgang zur Früherkennung islamistischer Terroristen“ an.
Häusliche Gewalt in drei Fällen
Wenig später trat der 29 Jahre alte Tunesier dann allerdings auf andere Weise polizeilich in Erscheinung: Am 8. Januar zeigte Jasmin D. ihren Ehemann „wegen häuslicher Gewalt in drei Fällen seit 2017“ an. Auf einer Kölner Polizeidienststelle gab die Frau zu Protokoll, „unterschiedliche Auslegungen des Islam“ hätten bei einem der Übergriffe eine Rolle gespielt. Am selben Tag suchten Polizeibeamte Sief Allah H. in Chorweiler auf, um ihm zum Schutz seiner Ehefrau nach Paragraf 34 des Landespolizeigesetzes der gemeinsamen Wohnung zu verweisen und ihm ein zehntägiges Hausverbot zu erteilen. Am 25. Januar erschien das Paar dann aber gemeinsam auf der Polizeiwache und Jasmin H. zog ihren Strafantrag zurück.
Derweil führten die Bundes- und Landesbehörden ihre Erkenntnisse zusammen. Mitte März teilte des Bundesamt für Verfassungsschutz den anderen Behörden dann mit, dass es den Mann bis auf weiteres observiere. Gleichwohl, Hinweise auf eine terroristische Gefahr blieben diffus. Der Frage, wann und wie sich die Erkenntnisse verdichteten, weicht Reul in seinem Bericht aus, er verweist lediglich auf „eine funktionierende internationale Zusammenarbeit“. Nach Informationen dieser Zeitung kam der entscheidende Hinweis, H. habe Komponenten für den Bau eines Sprengsatzes bei einem Internetversandhändler bestellt, von einem ausländischen Geheimdienst.
In einer Sitzung des Gemeinsamen Terrorabwehrzentrums (GTAZ) teilte das BfV dann den anderen deutschen Sicherheitsbehörden am 1. Juni mit, es gebe „einen Hinweis auf mögliche terroristische Aktivitäten“ des Tunesiers. Die Runde beauftragte das BfV mit der weiteren Aufklärung. Recherchen der Verfassungsschützer und Ermittlungen des nun ebenfalls eingeschalteten Bundeskriminalamts ergaben, dass Sief H. seit Mai bei dem Internetversandhändler mehrfach in mehreren Etappen größere Mengen Rizinussamen bestellt hatte – offensichtlich, um daraus das hochgiftige Rizin zugewinnen. Darauf deutete die ebenfalls georderte elektrische Kaffeemühle hin. Zudem bestellte der Tunesier Hunderte kleine Metallkugeln. Allem Anschein nach baute H. an einer Bombe mit rizininfizierten Geschossteilen. Auf der Internet-Bestellliste des Tunesiers fand sich außerdem ein Schlafsack und eine mobile Zusatzbatterie. Daraus schlossen die Ermittler laut Reul-Bericht, dass H. schon seine Flucht nach einem geglückten Giftbomben-Attentat plante. Am 11. Juni war Sief H. noch einmal Thema im GTAZ, danach verdichteten sich die Hinweise innerhalb weniger Stunden so sehr, dass sich die Ermittler am Tag darauf zum Zugriff entschlossen. Die Wohnungsdurchsuchungen in Chorweiler bestätigten dann den Verdacht, dass sich H. beim Bau seiner Bombe strikt an eine entsprechende Anleitung des IS aus dem Internet hielt. Schritt für Schritt wird darin in Wort und Bild beschrieben, wie man die braunen Rizinussamen mahlen muss, um das Gift zu gewinnen. Insgesamt 84,3 Milligramm Rizin hatte H. bereits aus den Samen extrahiert. Die Menge hätte für 1.600 toxische Dosen gereicht.
Auch nach dem Reul-Bericht bleiben noch viele Fragen offen. Hatte der Tunesier Mittäter in Deutschland? Gab es ein IS-Mastermind im Ausland, der ihn anleitete und motivierte? In der Vergangenheit waren mehrere dschihadistische Attentäter von Mitgliedern der Terrororganisation per Messengerdienst teilweise bis kurz vor ihrem Anschlag beraten und gesteuert worden. Unklar ist auch, ob der in Syrien und dem Irak weitgehend geschlagenen IS systematisch danach strebt, nun in Europa mit einer neuen, verheerenden Waffengattung zuzuschlagen. Für diese These könnte sprechen, dass erst Mitte Mai zwei Ägypter in Paris festgenommen worden waren, die ebenfalls an einer Rizin-Bombe gebaut haben sollen.