Stefan Weidner: Heute ist der Westen, glaube ich, das, was eigentlich mit dem Fall der Mauer 1989 neu definiert wurde. Wir erinnern uns: Der Kommunismus ist zusammengebrochen, der Ostblock fiel fort. Und die amerikanischen Politikwissenschaftler, allen voran Francis Fukuyama und Samuel Huntington, haben sich gefragt: Was bedeutet das für den Westen, für die einstigen kapitalistischen Staaten?
Vor allem Dingen Francis Fukuyama hat die These aufgestellt: Das bedeutet eigentlich, dass das westliche System gewonnen hat, dass die ganze Welt, dass alle eigentlich so werden wie der Westen – oder sich bemühen müssen, so zu werden. Denn das ist die sozusagen historisch siegreiche Weltanschauung. Und deswegen hat er von einem Ende der Geschichte geredet – Ende der Geschichte als Ende des Kampfs zwischen den Ideologien. Die Menschheit weiß jetzt, wie sie sich verhalten muss, welche Ideologie sie hat, welches Wirtschaftssystem sie hat: Das ist die liberale, kapitalistische Demokratie des Westens. Das war die große These von Fukuyama.
Und Huntington hat eher konservativ dagegengehalten: Der Rest der Welt wird sich nicht dem Westen anschließen, er wird sich abschließen, wird in Konkurrenz zum Westen gehen – es gibt deswegen einen Kampf der Kulturen. Der Westen muss sehen, dass er seine Überlegenheit behält, dass er sich nicht hereinreden lässt von den anderen.
Das waren die beiden großen Blöcke. Der progressive von Fukuyama, alle werden wie der Westen, und die von Huntington, der sagt: Jeder bleibt wie er ist, der Westen muss sehen, dass er bleibt wie er war, und dann ist alles gut.
Die Religionen werden überwunden oder wenigstens ruhiggestellt
Florin: Wir sprechen hier in einer Religionssendung miteinander. Was bedeutete das für die Religionen? War das die Überwindung der Religionen?
Weidner: Eigentlich schon. Also, in dem System von Huntington spielt die Religion eine große Rolle, weil Huntington eigentlich diese Bruchlinie zwischen den Kulturen an religiösen Bruchlinien festmacht. Der Islam ist ein großes anderes System, die fernöstlichen Weltanschauungen – da meinte er dann vor allen Dingen auch den Buddhismus – sind ein anderes System, und vor allen Dingen auch die Orthodoxie, Osteuropa, Russland, Griechenland, Serbien. Und wir haben ja dann gesehen – und wir sehen es bis heute -, dass diese Bruchlinien wie so eine Art "self fulfilling prophecy", wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, immer stärker werden. Also alle konservativen Strömungen machen diese Bruchlinie anhand der Religion auf.
Nur der Westen, sagte Huntington, ist eigentlich nicht religiös definiert: Er ist eher nach seiner Wirtschaftsform definiert, er ist als Offenheit definiert. Obwohl ganz klar ist, dass für Huntington auch der Westen im Grunde das liberale, vor allen Dingen protestantische, anglophone Christentum ist. Aber das ist, wie gesagt, die identitäre Position.
Und bei Fukuyama spielt die Religion eigentlich keine Rolle. Fukuyama greift da sozusagen den Fortschrittsoptimismus des 19. Jahrhunderts auf der radikalen säkularen aufklärerischen Moderne, die gesagt hat: Jeder kann seine Religion leben wie er will, aber sie soll doch bitte nicht in den politischen Raum, in den wirtschaftlichen Raum und so weiter hineinspielen. Also die Religion ist eigentlich "ruhiggestellt" oder abgeschafft bei Fukuyama. Sie spielt für die Entwicklung der Menschheit keine Rolle mehr. Bei Huntington ist es eigentlich nur noch ein identitärer Marker, eine Markierung: Sie sagt, wer die Menschen sind, aber sie soll eigentlich auch nicht wirklich eine Rolle spielen.
Florin: Nun haben längst nicht alle Huntington und Fukuyama gelesen, es sind nicht alle Politikwissenschaftler und es sind nicht alle Intellektuelle – trotzdem waren diese Ideen ja sehr wirkmächtig. Woran liegt das?
Weidner: Das ist eine spannende Frage. Es ist wirklich so, dass ich glaube, dass wenn wir heute darüber diskutieren, was der Westen ist, dann sind das diese beiden Positionen, die das ziemlich genau abbilden: die progressive und die eher identitäre. Aber beide sind verheerend. Ich bin zutiefst überzeugt, dass nicht nur konservative Politiker wie Trump oder Bush, sondern auch progressive wie die Clintons zum Beispiel sehr geprägt sind von dieser liberalen Ideologie Fukuyamas. Das gilt auch teilweise noch für die deutsche Sozialdemokratie. Und was diese konservative Strömung angeht: Der Konflikt mit China ist da schon vorausgedacht. Bei Fukuyama wird 1992 schon Trump genannt als jemand, der doch vielleicht, wenn er seinen Ehrgeiz wirklich verwirklichen will, nicht damit zufrieden sein kann, dass er nur ein Geschäftsmann ist.
Das heißt, es wird ein Gesellschaftsmodell aufgemacht, das perfekt passt in das neoliberale Klima, in eine Stimmung, wo man denkt: Hey, wir haben den Systemkonflikt gewonnen, uns steht die Welt offen, wir können alles investieren, wir werden im Paradies landen. Und ich glaube, diese Heilsversprechen, die davon ausgehen, das ist das Wirkmächtige. Das sind Heilsversprechen, das sind säkulare Heilsversprechungen, von denen man aber spätestens heute merkt - und von denen der Rest der Welt eigentlich immer schon, oder seit längerem schon gemerkt hat, dass der Westen sie nicht halten kann. Der Westen kann diese Heilsversprechen nicht halten.
Suche nach einer neuen Ethik
Florin: Sie kritisieren den Antagonismus: der Westen und der Rest, "the west and the rest". Zugleich sagen Sie aber: Der Westen ist eine apokalyptische Ideologie. Sie machen ja auch diesen Antagonismus auf zwischen Heil und dem, was Sie sagen: "Nein, es ist ein Heilsversprechen, aber es ist eine Apokalypse."
Weidner: Genau. Diese Ideologie des Westens, die ich beschreibe, hat einen klaren säkularen Heilshorizont. Und wenn wir diesen Heilshorizont wegstreichen, wenn wir die Versprechen nicht mehr glauben oder sie verwerfen, weil sie nicht mehr die Versprechen sind, die wir vielleicht wollen, dann bricht dieses ganze System zusammen. Und damit ist klar, diese Ideologie des Westens ist auch ein quasi religiöses Versprechen. Und dagegen setze ich eigentlich die klassische Religion, die durch ihre Trennung von Diesseits und Jenseits, von materieller Welt und geistiger, spiritueller Welt ganz andere Freiräume für den Menschen verbreitet. Und zwar solche, die weniger zerstörerisch sind und die weniger bedeuten, dass man die Wirklichkeit, das Diesseits ständig manipulieren muss.
Florin: Aber wenn wir den Globus anschauen, dann sehen wir doch, dass in vielen Ländern der Welt, in der Mehrheit der Länder Welt zum Beispiel Frauen unterdrückt werden, dass überhaupt Menschenrechte wenig zählen, Minderheitenrechte wenig zählen. Da würde ich ganz naiv sagen: Da steht der Westen doch immer noch besser da?
Weidner: Ich sage nicht, dass der Westen schlechter dasteht. Ich sage nur, dass Sie die Bedingungen, die Sie brauchen um etwa eine Gleichberechtigung der Geschlechter herzustellen, nicht ohne Weiteres überall einführen können. Und Sie können nicht die Gleichberechtigung der Geschlechter fordern, ohne diese Bedingungen herzustellen. Dazu gehört ganz wesentlich wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frau. Dafür müssen sie eine bestimmte Art von Wirtschaftswachstum, eine bestimmte Art von Wirtschaftsstruktur auch haben. Wenn Sie das schaffen, dann können Sie die Gleichberechtigung tatsächlich versprechen.
Wenn Sie aber die Gleichberechtigung einfordern, ohne die entsprechenden wirtschaftlichen und anderen politische Bedingungen auch zu schaffen, dann entrechten Sie die Frauen sogar. Dann nehmen Sie ihnen die wenigen Rechte, die sie in anderen Kulturen ja durchaus haben. Und das kann nicht funktionieren. Zumal dann, wenn natürlich die westliche Politik in diesen Ländern immer eingreift, zum eigenen Vorteil die Wirtschaft manipuliert und so weiter und so weiter.
Weg in die "Entfremdungs-Intoleranz"
Florin: Wir stellen fest, dass diese demokratische Missionierung nicht nur im globalen Maßstab nicht mehr erfolgreich ist, sondern auch innerhalb der Demokratien nicht mehr erfolgreich ist, dass also die Demokratien jetzt infrage gestellt werden. Dass wir dort also kritische Größenordnungen haben von Parteien, Populisten, die eben sagen: Die Demokratie bildet eigentlich den Willen des Volkes gar nicht richtig ab. Womit erklären Sie sich das?
Weidner: Es ist eingetreten eine allgemeine Form von Entfremdungs-Intoleranz. Die Leute sind nicht bereit hinzunehmen, dass die Dinge nicht so laufen, wie sie idealerweise wollen und wie es ihnen versprochen wurde, obwohl dieses Land doch so reich ist, obwohl es doch tatsächlich so demokratisch ist, obwohl doch eigentlich alles perfekt läuft.
Aber natürlich, nie werden Sie dahin kommen, dass sozusagen alles was Sie stört, alles was Sie entfremdet, alles was nicht Ihren Vorstellungen und Wünschen entspricht, dass das beseitigt wird. Das ist unmöglich. Nur ein totalitäres System kann eine völlige Gleichschaltung von Bewusstsein und Realität herstellen. Das wollen wir hier nicht. Wenn wir die Leute sozusagen infantilisieren und ihnen versprechen, wir regeln alles, dann führt das zwangsläufig zu einer solchen Entfremdungs-Intoleranz: Man ist nicht mehr in der Lage hinzunehmen, dass die Wirklichkeit die Wirklichkeit ist – und ist leider nicht so, wie wir sie wollen.
Florin: Welche Möglichkeiten gibt es, anders mit Entfremdung umzugehen als permanent zu versprechen: Du wirst an das Ziel Deiner Wünsche kommen – was natürlich das kapitalistische Versprechen ist.
Weidner: Für die meisten Menschen ist dieses Spirituelle, Geistige, die Religion. Die Religion ist ein Gefäß für diese zweite geistige, seelische, letztlich auch moralische – sehr wichtig – moralisch-ethische Ebene, wo man weiß: Okay, das Ideal ist das. Das Ideal ist aufgehoben in, meinetwegen, den Zehn Geboten, ist aufgehoben in einer Vorstellung vom Paradies, ist aufgehoben in gewissen zwischenmenschlichen Verfahrensweisen, die die Religion entwickelt hat. Die Wirklichkeit ist eine andere, das wissen wir. Aber wir haben das Ideal, und wir wissen, dass beides nicht zur Deckung kommt. Aber die Tatsache, dass wir das Ideal haben, dass wir daran glauben können, dass es uns geistig-seelisch nährt und hält, das ist, glaube ich, schon sehr, sehr viel. Und das ist, gerade im Westen, weitgehend vergessen worden.
Der politische Islam als Wiederkehr des Verdrängten
Florin: Ist der Terror im Namen des Islam, so eine Art Rache oder zumindest eine Reaktion auf diese Religionsvergessenheit des Westens?
Weidner: Ich weiß es nicht. Ich glaube, es ist eher die Wiederkehr des Verdrängten. Wir müssen uns ja vor Augen halten, dass der radikale Islam ohne die Förderung oder zumindest Duldung, die er erfahren hat durch den Westen im Kalten Krieg – der Westen hat im Kalten Krieg den Islam gefördert, weil der Islam versprach, gegen den Kommunismus zu sein. Man hat gedacht: Westen und Religion ist kompatibel – damit auch Westen und Islam. Man hat die Saudis machen lassen, man hat den Saudis Öl abgekauft, man hat sie machen lassen, dass sie Prediger in alle Welt schicken, dass sie den Islam radikalisieren. Das hat gut funktioniert im Kampf gegen die Sowjets in Afghanistan, hat aber letztlich zu den Taliban, zu Al Qaida und so weiter geführt.
Man hat gemerkt: Nein, der radikale Islam oder die Religion als solche ist als Gegenkraft gegen den Westen unbedingt einsetzbar. Das hat alte kulturgeschichtliche Wurzeln im Westen selbst: Die Reaktion, die Reaktion auf die Aufklärung, die Gegenaufklärung, war ja selbst sehr religiös geprägt im 19. Jahrhundert im Westen. Und ich glaube, diese Gegenreaktion, also Religion als Gegenreaktion auf die Moderne und auf die radikalisierte Aufklärung, das ist als Vorstellung durchaus rezipiert worden in der islamischen Welt, ist aufgeladen worden im Zusammenhang mit dem Kampf gegen den Kolonialismus und hat sich durchgehalten im Kampf gegen den Imperialismus, im Kampf gegen Kommunismus und schließlich im Kampf gegen den heutigen Westen. Und kommt jetzt in Form einer Gewalt, einer Terror-Gewalt, wieder.
Der Terrorismus, auch der islamische, ist nicht das komplett Andere, das irgendwoher kommt und uns gute Menschen überfällt, nein: Es ist eine Bewegung, die wir intensiv auch nur verstehen können, wenn wir die westliche Rolle und die westliche Tradition damit einbegreifen.
"Der Islam von heute hat mehr Ähnlichkeiten mit Kommunismus und mit Faschismus als mit Religion"
Florin: Auf der anderen Seite, sozusagen hier auf dieser Seite, auf der westlichen Seite, kommt das Christliche zurück – zumindest verbal. Das christliche Abendland, das heraufbeschworen wird.
Weidner: Das kommt dann zutage, wenn man sagt: "Der Islam gehört nicht zu Deutschland." Was natürlich heißt: Das Christentum gehört zu Deutschland, das Judentum gehört vielleicht auch noch dazu, der Islam gehört nicht dazu. Ja, das ist natürlich auch im radikalen Islam der Fall -, das ist eine identitäre Konzeption der Religion. Es ist nicht eine Religion im Sinne einer großen Spiritualität, einer Offenheit, einer Weite, eines wirklich religiösen Lebens, sondern es ist die Religion als Definition einer Identität, die sich gleichzeitig abgrenzt von anderen Identitäten. Es ist eine Ideologisierung der Religion, eine Politisierung der Religion, nicht um die Menschen zu verbinden, sondern um sie voneinander abzutrennen. Und da funktioniert der radikalpolitische Islam nicht anders, als wenn die Religion im Westen jetzt genutzt wird um zu sagen: Ja, aber Ihr anderen, Ihr gehört nicht dazu. Wir – das sind die – und das sind die.
Florin: Was ist falsch an dem bisweilen gutgemeinten Rat, der Islam brauche eine Aufklärung, der Islam brauche in gewisser Weise eine Verwestlichung, zumindest der Islam, der hier ankommt?
Weidner: Ich fürchte, dass der Islam sich tatsächlich schon seit Langem verwestlicht hat – und dass genau das das Problem des Islams ist. Der Islam heute ist weniger eine Religion als eine moderne politische Ideologie, die mehr Ähnlichkeiten hat mit Kommunismus und Faschismus als mit dem, was traditionell Religion und was traditionell der Islam war. Das heißt: Der Islam hat viele Elemente der westlichen Säkularisierung aufgenommen, zum Beispiel und ganz besonders dasjenige nämlich des säkularen Heilsversprechens. Die Parole des politischen Islams lautet: Der Islam ist die Lösung. Und das heißt die Lösung für unsere weltlichen Probleme in diesem Fall. Damit ist der Islam als Religion eigentlich in das Saeculum, in die Säkularisierung eingetreten und hat einen säkularen Heilsanspruch. Das ist etwas, was er nie hatte. Er war durchaus eine weltliche Ordnungsmacht, das wollte er sein. Aber er hatte nie den Anspruch, sozusagen die Welt in ein Paradies zu verwandeln.
Und in dem Sinne ist der Islam bereits verwestlicht. Er hat Aufklärung auf eine schlechte Weise, er hat sozusagen die Dialektik der Aufklärung aufgesogen. Und das, was man heute unter Aufklärung des Islams versteht, meint ja nur eine Verwestlichung des Islams, das meint ja wenig anderes als den Islam irgendwie zu so einer Privatreligion zu machen, wie es für die meisten Menschen das Christentum ist, und dass er keine politischen Ansprüche mehr hat. Und da würde ich sagen: Nein. Gerade die politischen Ansprüche, solange es nicht diese ideologischen sind, sondern solange es ethische Forderungen, moralische Forderungen beinhaltet, da ist die Religion – und genauso das Christentum – eine positive Kraft, die durchaus in den öffentlichen Raum und in die Politik wirken soll. Aber natürlich nicht dogmatisch, nicht identitär, nicht ideologisch, sondern einfach als ein Maßstab, der gesetzt wird, ein moralischer Maßstab.
Entsagende Freiheit als Gegenbegriff zum Materialismus
Florin: Ganz große Frage, aber Sie müssen sie beantworten, weil Sie im Titel des Buches schon sagen: Es gibt eine Vorstellung "jenseits des Westens". Welcher Weg führt hinaus aus diesem Antagonismus?
Weidner: Wir müssen eine Entfremdungs-Toleranz entwickeln. Wir dürfen nicht mehr glauben, dass Politik, Wirtschaft, Technik oder Weltanschauungen, dass die sozusagen den Riss in der Welt heilen können, dass die uns die Entfremdung nehmen können, dass es eine Heilserwartung im Diesseits gibt. Ich glaube, das ist unsinnig. Wir müssen uns von dieser diesseitigen Heilserwartung verabschieden. Und da halten, glaube ich, die Religionen ein großes Potenzial an Sinnangeboten bereit, die an die Stelle dieses weltlichen Heilsangebotes treten können.
Ich glaube aber auch, dass man die Religionen nicht absolut notwendig dazu braucht, dass es durchaus genügt, sozusagen eine Art von Spiritualität, Geistigkeit, Kultur zu pflegen, die nicht religiös sein muss, aber die deswegen nicht dem Materialismus verfällt. Ein großes Beispiel ist für mich Gandhi, der das Konzept der entsagenden Freiheit entwickelt hat, womit er meint: Die Freiheit heißt nicht, dass wir jetzt mal alles tun können, was wir wollen. Er sagt, die Freiheit besteht darin, dass wir uns zurücknehmen, dass wir Dinge nicht machen, dass wir auf diese ganzen Zumutungen und Appelle, die von außen an uns herangetragen werden, nicht wie in einem automatischen Aktion-Reaktion-Schema reagieren, sondern dass wir uns rausnehmen, dass wir auch sagen: Nein. In dem Moment, wo Sie Freiheit auch als eine entsagende, nicht nur, aber auch eine entsagende Freiheit verstehen – in dem Moment brechen Sie natürlich die Spitze und diesen ganzen Appellcharakter des Kapitalismus, "Ihr müsst jetzt kaufen!", "Ihr müsst jetzt machen!", "Ihr müsst jetzt tun!", das bricht man. Und damit macht man sich frei für etwas anderes.
Alternativen zu Neid und Konkurrenz
Florin: Aber das können Sie doch nicht verordnen. Vom Kapitalismus, vom Versprechen, vorne zu sein, überlegen zu sein, geht eine große Verführungskraft aus. Entsagung ist schwerer.
Weidner: Also auf mich geht davon keine Verführungskraft aus. Entwickeln wir eine Ideologie, eine Weltvorstellung des Neides und der Konkurrenz? Oder entwickeln wir eine der Gemeinsamkeit, der Brüderlichkeit, der Gleichheit? Und das ist eine Frage des Schwerpunktes. Und ich glaube, wenn wir den Schwerpunkt woanders setzen, dann wird der Neid- und der Konkurrenzgrund nicht abgeschafft, aber er wird stark abgemildert. Und umgekehrt schaffen wir natürlich Gleichheit und Brüderlichkeit ab, wenn wir jetzt ganz auf den Konkurrenzdruck setzen.
Florin: Wer ist der Gandhi von heute?
Weidner: Ich glaube, den gibt es nicht - vielleicht ist es Papst Franziskus. Ich denke, er beschreitet einige richtige Wege. Diese große Führerfigur, die haben wir nicht. Aber ich glaube, das ist vielleicht auch ganz gut. Führerfiguren sind immer problematisch. Auch Gandhi war natürlich persönlich ein hochproblematischer, teilweise zwanghafter Charakter - das muss man ganz klar sehen.
Die Frage ist halt, was will man? Wollen wir zurückfallen in ein Mosaik der kleinen Grenzen, der sich ständig verkleinernden, immer weiter aufbrechenden Bruchlinien der jeweiligen Identitäten, die sich am Ende natürlich nur hassen können, die einander in Konkurrenz nicht freundschaftlich zugewandt sein werden? Wenn wir das wollen, dann haben wir etwas Schlimmeres als die Welt von heute. Dann haben wir vielleicht die Welt von 1914 oder von 1939. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass das selbst im Sinne der Menschen ist, die jetzt vielleicht aus einer Angst heraus, aus einer Unsicherheit heraus diese kurzfristig vielleicht einen gewissen Schonraum versprechende Ideologie der neuen Aufladung des Nationalstaates, der neuen Aufladung der Identität und so weiter (verbreiten) ... Ich glaube nicht, dass das zielführend ist.
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