Fünfundneunzig Prozent der in der Polizeilichen Kriminalstatistik erfassten antisemitischen Übergriffe, also der überhaupt angezeigten, sind, so die offizielle, regierungsamtliche Lesart, dem rechtsradikalen Spektrum zuzurechnen. Das hat über die Jahre immer gut funktioniert, wer das Ergebnis anzweifelte, dem konnte es passieren, gleich mit in die braune Ecke bugsiert oder – falls bekennend jüdisch – mitleidig als befangen klassifiziert zu werden. Eine Wahrnehmungsfalle, in die guten Muts seit Jahren die Beschwichtiger tappen, die sich im vertrauten „Kampf gegen rechts“ eingerichtet haben, ob als Förderer oder Geförderte. Nur für den kargen Rest sollen muslimische Judenfeinde verantwortlich sein. Doch was sie antreibt, warum sie ihren Judenhass selbst an Mitschülern ausleben, ihre kruden Weltbilder – das ist ein blinder Fleck geblieben. Auf einsame Mahner wie den Psychologen Ahmad Mansour ist lange nicht gehört worden. Er warnt seit Jahren vor diesem unter jungen Migranten grassierenden Antisemitismus als einem der wesentlichen Integrationshindernisse.
Vor vier Jahren drangsalierten Jugendliche in Berlin Unter den Linden Juden, deutsche Jungnazis waren nicht dabei, was die ganze Welt gesehen hatte. Kurz darauf rief der Zentralrat der Juden zu einer Protestkundgebung am Brandenburger Tor; die Regierung kam, die Bischöfe, die jüdischen Verbände, sie sprachen vor einer überschaubaren Menge. Am erstaunlichsten war jedoch, dass kaum jemand erwähnte, wer die Täter gewesen sind, die „Jude, Jude, feiges Schwein“ und Schlimmeres gebrüllt hatten, und was daraus zu folgern wäre. Muslimische und/oder arabische Judenfeindschaft hat bis heute keinen Platz im ritualisierten Verurteilen solcher Hassattacken. Eher schon wird dann darauf verwiesen, dass zuerst einmal die Diskriminierungserfahrungen der meist jungen Täter ergründet werden müssten, um zu verstehen. Man stelle sich das für einen der üblichen Rechtsradikalen vor. Aber was gibt es zu verstehen, wenn ein kleines Mädchen in der Schulkantine misshandelt und mit dem Tod bedroht wird, weil sie jüdisch ist? Wenn einem Abiturienten, dem es ähnlich erging, geraten wird – um eine Eskalation abzuwenden –, nicht mehr auf dem Schulhof zu erscheinen? Wenn ein fünfzehnjähriger Berliner nach Schikanen schließlich nach Israel an eine Internatsschule flieht?