Im Allgemeinen lehnt der Islam Mönchs- und Asketentum ab. Gott verlangt von den Menschen, dass sie mit anderen Menschen zusammenleben und in der Gesellschaft Verantwortung übernehmen. Spirituelle Rückzugsmöglichkeiten bietet der Islam vor allem mit den täglichen Pflichtgebeten und anderen Riten wie der Pilgerfahrt, dem Fasten im Monat Ramadan und empfohlenen Handlungen und Bittgebeten zu jeder Tageszeit, vor allem für die Nacht, sofern es dem einzelnen Menschen möglich ist.
Itikaf
Eine Ausnahme von der Ablehnung jeglichen absoluten Rückzugs ist die empfohlene Handlung des Itikafs: der spirituelle Rückzug in eine Moschee für mindestens drei und maximal zehn Tage.[1] Drei Tage zieht man sich in vollständiger Form aus der Gesellschaft zurück und konzentriert sich alleine auf sich und seine Beziehung zu Gott. Aber selbst dies vollzieht man in der Regel nicht alleine, sondern in Gemeinschaft. Selbst hierbei verhindert Gott, dass der Mensch zu individualistische, egoistische Gedanken oder gar Charakterzüge entwickelt.
Eine bestimmte Anzahl an Tagen, die als innere Widerspiegelung des eigenen Daseins dienen können: Drei Tage inmitten der heiligen drei Monate Radschab, Schaban und Ramadan spiegeln drei Lebensphasen des Menschen wider.
In der ersten Phase befindet sich der Mensch im Alter der Unwissenheit, wohl auch der Verwirrung, der Suche und des Versuchs einer Orientierung, die nicht zuletzt auch der Selbstreinigung dienen kann. In dieser Phase sucht er nach einem Hudscha (Beweis) Gottes, der ihn auf den geraden Weg zu Gott führen soll. Die zweite Phase, also das zweite Lebensdrittel, verbringt der Mensch idealerweise damit, sich auf dem geraden Weg zu festigen. Der Beweis Gottes hat ihn an die Hand des Gesandten Gottes geführt, der den Menschen nun führt. Hierauf folgt der letzte Lebensabschnitt des Menschen und die damit verbundene intensivierte Vorbereitung auf die Rückkehr zu seinem Herrn.
Die vorbenannten drei heiligen Monate spiegeln diesen Lebenszyklus jährlich wider, sodass der Mensch jährlich eine neue Gelegenheit erhält, sich auf den Sinn und das Ziel seines Daseins zu besinnen und zu konzentrieren: „Wir sind Gottes, und zu ihm kehren wir zurück.“ (Heiliger Quran, 2:156). Hierfür sollte der Gottesdiener stets versuchen sich selbst zu erkennen. Imam Ali sagt hierzu: „Wer sich selbst erkennt, erkennt seinen Herrn.“ Selbsterkenntnis ist der Schlüssel zur Gotterkenntnis.
Die Selbsterkenntnis
Die kleinstmögliche Abbildung dieses Zyklus sind die drei Gebetszeiten morgens (Suche, Verwirrung, Orientierung), mittags (Festigung und Voranschreiten) und abends (Rückkehr zum Herrn, innere Einkehr). Drei Tage und zwei Nächte im Itikaf spiegeln den beschriebenen Zyklus ebenfalls in beeindruckender Form wider, vor allem, wenn dieses Itikaf zum 13., 14. und 15. des Monats Radschab vollzogen wird. Man beginnt das Itikaf mit dem Fürsten der Gottesfürchtigen und ersten Imam nach dem letzten der Propheten, Imam Ali, der an einem 13. Radschab im Haus Gottes, der Kaaba, geboren wurde. Der Gottesdiener bindet sich an ihn und macht sich auf die Reise.
Der erste Tag ist der wichtigste Tag der Selbsterkenntnis. Man führt eine Selbstanalyse durch. Wer bin ich? Was mache ich hier? Warum bin ich hier? Was habe ich mit meiner bisherigen Lebenszeit angefangen? Was habe ich Gutes getan? Was habe ich Schlechtes getan? Wie ist mein Lebensalltag? Bin ich wirklich ein Gottesfürchtiger? Diese und viele andere Fragen kann sich der Gottesdiener stellen und darüber nachdenken, mithilfe der göttlichen Worte aus dem Quran, mithilfe der prophetischen und imamitischen Worte aus empfohlenen Bittgebeten oder mithilfe von Lobpreisungen Gottes, des Propheten und der Ahlulbayt. Eine der möglichen Erkenntnisse dieses Tages kann sein, dass die Gottesbeziehung geschwächt ist, dass diese Beziehung leidet, weil der Gottesdiener sich in seinem Alltag zu sehr von Gott ablenken lässt, zu sehr mit Materiellem, mit Angelegenheiten des Diesseits beschäftigt ist und die Probleme des Lebens sein Herz und seine Gedanken so sehr einnehmen, dass das Gottesgedenken kaum mehr als ein Pflichtritual in seinem Leben darstellt. Und er erkennt, dass der Zustand seiner Beziehungen zu seinen Mitmenschen, insbesondere zu seinem Ehepartner, seinen Kindern und seinen nächsten Verwandten ein Spiegel der Beziehung zu seinem Herrn ist, im Positiven wie im Negativen.
Er erkennt, dass er die Beziehung zu seinem Herrn intensivieren muss, damit er in der nächsten Phase zu den Gefestigten auf dem Weg zu Gott gehört. Einer der Gelehrten zitierte hierzu beim Itikaf in Hamburg eine Überlieferung des Propheten: „Die Herzen des Menschen sind dreierlei: Ein Herz, das mit dem Diesseits beschäftigt ist, ein Herz, das mit dem Jenseits beschäftigt ist, und ein Herz, das mit dem Maula (Herrn) beschäftigt ist. Das Herz, das mit dem Diesseits beschäftigt ist, verliert alles. Das Herz, das mit dem Jenseits beschäftigt ist, erhält dort hohe Stufen. Und das Herz, das mit dem Herrn beschäftigt ist, erhält sowohl das Diesseits als auch hohe Stufen im Jenseits als auch den Herrn selbst.“
Am zweiten Tag des Itikafs hat der Gottesdiener sich etwas gefangen. Er weiß nun, wo er sich befindet und wo er hin will. Mithilfe seines Imams gelangt er nun zur Erkenntnis über seinen Propheten. Er kann jetzt planen, was er mit seinem Leben anfangen will, wie er es gestalten soll. Intensiv denkt er hierüber nach und nimmt weiterhin die göttlichen, prophetischen und imamitischen Worte zur Hilfe, welche stets mehr und mehr Licht ins Dunkel seines Inneren bringen. Am Abend des zweiten Tages muss er aber eine Prüfung bestehen. Er muss lernen, dass die Rückkehr zu Gott nur mit Aufopferung möglich ist, Aufopferung in jeder Hinsicht. Es reicht nicht mit dem Herzen zu glauben und mit der Zunge zu bekennen. Handlungen müssen her. Der Gottesdiener muss die Liebe zu seinem Imam, zu seinem Propheten und somit zu seinem Herrn aktiv unter Beweis stellen. Hierfür reichen auch gottesdienstliche Handlungen nicht. Nein, Gott möchte sehen, ob sein Diener bereit ist das Pfand, das er mit dem Leben erhalten hat, jederzeit zum Schutz der Menschen und der gesamten Menschheit, zur Verteidigung seines offenkundigen Beweises, sei es ein Imam oder ein Prophet, zurückzugeben.
Die Opferbereitschaft
Vorbild ist hierfür nicht irgendwer, sondern eine Persönlichkeit, die jeden ihrer Angehörigen geopfert hat. Aber sie ist kein Imam. Und sie gehört nicht mal zu den Fehlerfreien im engeren Sinne. Sie ist ein „normaler“ Mensch und der „normale“ Gottesdiener soll erkennen, dass auch er zu einem solchen Opfer bereit sein muss und hierzu auch fähig ist, wenn er es möchte und wenn er den in ihm befindlichen göttlichen Geist bewahrt hat. Der Gottesdiener wird zur Herrin Zeinab geführt, deren Todestag am 15. Radschab ist.
Zeinab, welche bereits als Kind das Dahinscheiden des Propheten, den Angriff auf ihr Elternhaus und ihre Mutter, die Herrin Fatima, die Festnahme ihres Vaters, Imam Ali, sowie das Martyrium ihrer Mutter miterleben musste. Darauf folgend erlebte sie die historisch einmalige Unterdrückung ihres Vaters, der rund zwanzig Jahre davon abgehalten wurde, wahre göttliche Gerechtigkeit auf Erden walten zu lassen und hierbei mit ansehen musste, wie die islamische Umma auf Abwege geführt wurde. Etwa fünf Jahre später ist sie dabei, als der regierende Imam ihrer Zeit, Imam Ali, mit erschlagenem Kopf zu seinem Schöpfer zurückkehrt. Hiernach erlebt sie, wie einige Jahre später ihr Bruder und Imam der Zeit, Imam Hassan, vergiftet von seiner eigenen Ehefrau im Auftrag eines Tyrannen-Kalifen ebenfalls als unterdrückter Märtyrer zu seinem Herrn zurückkehrt. Und schließlich steht sie treu an der Seite des darauffolgenden Imams ihrer Zeit, Imam Hussein, in der Wüste von Karbala und muss mit ansehen, wie dieser, seine gesamte Anhängerschaft, die Neffen und Söhne des Imams, Qassim, Sohn des Hassan, ihre eigenen Söhne sowie ihr Bruder Abbas von der Armee eines Tyrannen-Kalifen getötet werden.
Daraufhin gerät sie in Gefangenschaft und übernimmt die Verantwortung für die Verbreitung der Ereignisse von Karbala und der damit verbundenen Botschaft von Imam Hussein. Ihr gesamtes Leben ist Aufopferung und Verteidigung des Imams ihrer Zeit, aber niemals, weil die Imame zu ihrer Familie gehören, sondern weil es die offenkundigen Beweise Gottes auf Erden sind. Und auch nicht, weil die Imame ihrer Unterstützung bedurft hätten, sondern vielmehr, weil sie als Gottesdienerin dieser Aufopferung bedarf, damit sie ihrem Herrn aufrichtig begegnen kann und ihr Gottesdienst angenommen wird. Sie erkannte die Imame ihrer Zeit, einen nach dem anderen, und stand ihnen treu zur Seite.
Der Gottesdiener kommt nicht umhin, von dieser Frau zu lernen. „Leben wie Zeinab, sterben wie Hussein“ soll in sein Fleisch und Blut übergehen. Ohne Karbala, ohne Aschura gibt es weder Erlösung noch Glückseligkeit noch Gottesdienst noch Islam. Der Gottesdiener soll an diesem Abend erkennen, wer der Imam seiner Zeit ist, denn ohne Imam kann er weder mit dem Propheten voranschreiten, noch zu Gott gelangen. Er soll darüber nachdenken, wie seine Beziehung zu diesem Imam ist: Sehnt er sich so sehr nach diesem, dass er sein Leben nicht in Ruhe führen kann? Benötigt er dessen Anwesenheit so sehr, dass seine Probleme nur mit seinem Imam gelöst werden können? Wer führt ihn zu diesem Imam? Hat der Imam niemanden entsandt, wie es Imam Hussein tat, als er Muslim ibn Aqil zu den Einwohnern der Stadt Kufa entsandte, bevor er sich dorthin auf den Weg machte? Wer nimmt heute den Treueeid zum verborgenen Imam von uns ab? Ayatullah Ramezani ist an diesem Abend sehr deutlich. So deutlich, dass der Gottesdiener diese Wahrheiten kaum noch leugnen kann. Die Nacht zum dritten Tag ähnelt der Nacht zum 10. Muharram. Man findet Gottesdiener vor, die zusammensitzen und über Gott und die Welt sprechen, über ihr Dasein, über ihre Aufgaben. Andere sind im Gebet vertieft. Andere rezitieren den Quran. Wiederum andere erheben ihre Hände in den Himmel zum Bittgebet. Die Gottesdiener wissen: Morgen geht es zurück zu Gott.
Die Rückkehr zu Gott
Aber wie? Wie kehren sie zu Gott zurück? Mithilfe einer weiteren Gottesdienerin, eine einfache Frau, längst nicht so bekannt wie die Herrin Zeinab. Eine Mutter, deren Sohn in den Kerkern eines Tyrannen-Kalifen war, dessen Befreiung sie herbeisehnte. Aber Freiheit und Erlösung gibt es nur über einen Weg, über die Achse Imam-Prophet-Gott. Und so ging Umm Dawud (die Mutter von Dawud) zum Imam ihrer Zeit, Imam Dschafar Sadiq, und fragte ihn, was sie tun könne, damit ihr Sohn befreit wird. Auch der Gottesdiener möchte sich befreien, von seinen inneren Gefängnissen. Imam Sadiq lehrte sie ein Bittgebet, das seinesgleichen sucht. Bevor sie ihre Hände in den Himmel zur Rezitation dieses Bittgebetes erheben darf, soll sie erst in sich selbst einkehren. Sie soll wieder und wieder ihre Selbsterkenntnis schärfen und somit die Erkenntnis ihres Herrn stärken.
Hierfür sind nötig: einhundertmal Rezitation der ersten Sure des Qurans, der Sure der Dankpreisung. Hiernach bezeugt sie mit der hundertmaligen Rezitation der Sure Al-Ichlas die Einheit Gottes. Mit der darauffolgenden zehnmaligen Rezitation des Thronverses bezeugt sie die erhabene Größe dieses einen Gottes. Und so geht es weiter: Sie soll verschiedenste Suren des Qurans lesen, um zumindest in ihrem Inneren für die Gaben Gottes zu danken (Sure Al-An’am), sich der Nachtreise des Propheten (Sure Al-Israa) anzuschließen. Sie soll sich mit in die Höhle der flüchtenden Jünglinge begeben und dort in Gottesgedenken verweilen (Sure Al-Kahf). Aber nicht nur sie, sondern auch der Gottesdiener, der es ihr gleich tut. Sie soll vordringen ins Herz des Qurans (Sure Yasin) und hiernach zurückkehren an der Seite so vieler Propheten und Gottesdiener (Sure al-Saffat). An der Seite von Imam Hussein (Sure Al-Fadschr) und mit dem versprochenen Erlöser (Sure Al-Duchan) soll sie schließlich vom Geschmack des großen Sieges kosten (Sure Al-Fath).
Sie soll in die Welt hinaus und die unendlichen Zeichen Gottes bezeugen, insbesondere den Tag der Religion. Aber welcher Tag ist kein Tag der Religion? Hat sie, und mit ihr der Gottesdiener, diese Bedingungen erfüllt, dürfen sie nun hervortreten und direkt zu Gott sprechen. Aber wie? Auch hier lobpreisen sie ihn, die Engel, die gesamte Schöpfung, den Vater der Menschheit, Adam und deren Mutter, Eva, deren Abkömmlinge, einen nach dem anderen, Propheten, die im Quran nicht namentlich erwähnt werden – es ist eine Reise durch die Geschichte des gesamten Daseins der Menschen. Eine Reise in sich selbst. Und wofür? Zur Errettung einer einzigen Menschenseele. Wie es im Quran heißt: „Wenn eine Menschenseele gerettet wird, so soll es so sein, als ob die gesamte Menschheit gerettet wird.“
Aber wessen Seele rettet Umm Dawud? Die Seele ihres Sohnes? Oder ihre eigene Seele? Das Bittgebet geht weiter. Gott wird mit all seinen prächtigen Namen gepriesen. Der Gottesdiener vergisst sich selbst, er befindet sich längst nicht mehr in der Moschee. Seine Seele ist nah bei Gott, es ist wie eine Himmelsreise, die er eigentlich täglich fünfmal erleben soll. Als er bei Gott ankommt, bekennt er seine Schwächen, seine Fehler, seine großen und kleinen Sünden, seine Winzigkeit, er bittet ehrfürchtig um Vergebung für alles Unrecht, das er je begangen hat. Seine Augen tränen, sie tränen mehr denn je. Er weiß jetzt, Gott hat seine Rückkehr angenommen, seine Reue ist vollbracht. Er kehrt in diese Welt zurück.
Um ihn herum sieht er lauter Geschwister, die ebenfalls tränenerfüllt von ihrer eigenen Himmelsreise zurückkehren. Dankbar werfen sich alle abschließend auf reine Erde nieder. Sie verbinden sich mit der Erde, aus der sie einst erschaffen wurden, und beginnen ein neues Leben.