Woran merkt ein Autor, dass er älter wird? Unter Umständen am „erhöhten Harmoniebedürfnis“, so Frank Plasberg. Bisweilen werden aber auch Erinnerungsschichten aktiviert, die Jüngeren verborgen sein müssen. Sie waren schlicht noch nicht geboren, als es der Autor erlebte. So fühlte er sich gestern Abend staunend an die im Jahr 1995 verstorbene Gisela Schlüter erinnert. Sie hatte in ihren Fernsehauftritten mit hinreißender Komik die ewige Quasselstrippe parodiert. Die Kabarettistin und Schauspielerin sprach in einem irrwitzigen Tempo, sprichwörtlich ohne Punkt und Komma, dafür mit über 480 Silben in der Minute, wie der „Spiegel“ damals in seinem Nachruf anmerkte. Das, was sie sagte, wirkte vor allem durch die Art, wie sie es formulierte.
Jüngere können sich an Gisela Schlüter nicht mehr erinnern. Sie bekamen aber eine Ahnung von ihrem Temperament, wenn sie bei Plasberg der Entertainerin Enissa Amani zuhörten. Diese war in ihrem Redefluß kaum zu bändigen. Selbst der Moderator musste sich mit einem virtuellen blauen Helm behelfen, um Frau Amani mit der bewährten Taktik der Verblüffung in höchster Not zu stoppen.
Religion als Lifestyle-Produkt
Dem Zuschauer ermöglichte Plasberg so eine Atermpause, um diese faszinierende Wiedergeburt Gisela Schlüters zu verarbeiten. Er kam dabei aber ins Grübeln, ob diese etwa zu ihrer Zeit in Werner Höfers „Internationaler Frühschoppen“ eingeladen worden wäre. Als Tochter einer Tschechin wäre die persönliche Betroffenheit beim Thema „Ostpolitik“ zweifellos vorhanden gewesen. Frau Amani hat dagegen iranische Eltern. Es ging bei Plasberg um „Islam ausgrenzen, Muslime integrieren – kann das funktionieren?“ Hier zeigte sich der Strukturwandel in der politischen Debatte. Ging es zu Höfers Zeiten noch um politische Argumentation, ist heutzutage die jeweilige Befindlichkeit der Motor solcher Diskussionsprozesse. Aus dem Worte-Tsunami von Frau Amani ließ sich aber trotzdem noch eine politische Aussage destillieren: Seid nett zueinander. Frau Amani sieht alles positiv. Deutschland, das Grundgesetz, alle Religionen, Deutsche und Migranten. Politische Debatten werden aus dieser Perspektive vor allem als störend empfunden.
Sie wirkt zwar nicht so, aber es entspricht dem Lebensgefühl der Hausfrau zu Schlüters Zeiten. Da hatte sie den Tisch gedeckt, es gab Kaffee und Kuchen, trotzdem zerstreiten sich die Männer lautstark wegen Brandts Ostpolitik. Für Enissa Amani ist daher das einzige Problem an der Islam-Debatte, im Islam überhaupt ein Problem zu sehen. In ihrer Lebenswelt spielt Religion allerdings keine Rolle. Das ist für sie ein metaphysisches Lifestyle-Produkt, ohne jede gesellschaftspolitische und ideologische Relevanz. Daraus entwickelt sich ein Toleranzbegriff, der sich aus der Beliebigkeit speist. So kam Frau Amani auch erst auf die merkwürdige Idee, den ideologisch motivierten Dschihadisten mit einem Psychopathen zu verwechseln. Dass ein dschihadistischer Selbstmordattentäter aus anderen Gründen handelt als der Münsteraner Mörder mit nachfolgender Selbsttötung ist dann außerhalb jeglichen Vorstellungsvermögens.