Keine der beiden Aussagen führt weiter: weder „Der Islam gehört zu Deutschland“ noch sein Gegenteil, also „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“. Beide Aussagen machen Stimmung, sind plakativ und reißen Gräben auf. Eine lösungsorientierte Aussage könnte lauten: „Der Islam ist in Deutschland.“ Denn knapp sechs Prozent der Wohnbevölkerung in Deutschland sind Muslime, Tendenz steigend. Dennoch ist das nur ein Viertel aller hier Lebenden mit Migrationshintergrund.
Bei einem Teil der Muslime verläuft die Integration schwierig; was allerdings kein Alleinstellungsmerkmal von Muslimen ist. So wie viele Deutschtürken dem türkischen Präsidenten Erdogan zujubeln, jubeln auch viele Russlanddeutsche dem russischen Präsidenten Putin zu. Ein Teil der Deutschtürken lebt zweifellos in Parallelgesellschaften, aber auch andere Migranten leben in ihrer eigenen Welt.
Der Islam ist hierzulande ein Thema, seit vor einem halben Jahrhundert billige Arbeitskräfte mit geringem Qualifikationsniveau nach (West-)Deutschland geholt wurden. Unter ihnen waren auch Muslime; sie brachten also ihre Religion in ein Land mit, in dessen Grundgesetz es in Artikel 4 heißt: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“ Das heißt: Deutschland soll Religion aushalten. Das Grundgesetz stellt keinen Bezug zum Christentum her, spricht aber von der Verantwortung des Deutschen Volkes vor Gott. Dennoch ist unbestritten, dass das Christentum Deutschland geprägt hat, selbst wenn viele Deutsche konfessionslos sind.
Die Debatte, ob „der Islam“ zu Deutschland „gehört“ oder „nicht gehört“, verläuft parallel zu diesem Prozess: Deutsche Mehrheitsgesellschaft und „türkische Community“ leben sich auseinander. Das gilt vor allem für die dritte Generation der Deutschtürken. Bei ihr zeigt sich, dass Bildung und Arbeit für die Integration nicht ausreichen; und Sprachkompetenz führt nicht notwendigerweise zur kulturellen Integration. Die dritte Generation ist wieder „mehr türkisch“, als es Eltern und Großeltern waren, und sie zeigt ihr Muslimsein offensiver. Sie fühlt sich möglicherweise in Deutschland zu Hause, den Deutschen aber nicht nahe.
Auch auf sie trifft zu, was der Islamwissenschaftler Thomas Bauer allgemein beobachtet: In der islamischen Welt nimmt die traditionelle Religiosität ab – politisierte Formen der Religion nehmen aber zu. Religion bleibe dann stark, wenn sie zur politischen Identitätsbildung beitrage, hat Bauer in dem Essay „Die Vereindeutigung der Welt“ geschrieben.
Eine wichtige Wegmarke für das Verhältnis zwischen Mehrheitsgesellschaft und „türkischer Community“ ist Thilo Sarrazins 2010 erschienenes Buch „Deutschland schafft sich ab“. Sarrazin sieht darin in „Erbfaktoren“ den Grund für das „Versagen“ von Türkischstämmigen im deutschen Schulsystem. Migrationsforschern zufolge haben das Buch und die von ihm angestoßene Debatte die Segregationstendenzen unter Türkischstämmigen verstärkt. Der türkische Präsident Erdogan hat sich das zunutze gemacht; viele Türkischstämmige erhoben ihn auch wegen seiner islamisch-nationalistischen Rhetorik zu ihrem Führer und Beschützer.
Früher lebten die Muslime, auch die türkischen, unaufgeregt einen traditionellen Islam; sie sprachen aber nicht davon. Heute sprechen sie vom Islam, leben ihn aber nicht mehr in traditionellen Formen, wohl aber in dessen neuem politisierten Gewand. Das leistet der Abgrenzung Vorschub, nicht der Integration.
Wie verhält es sich aber mit dem klassischen, traditionell gelebten Islam? Lässt er eine Integration zu – oder nicht? Der Islam lässt Integration zu, stellt aber gleichzeitig Hürden auf. So fordert der Koran in Sure 7 Vers 199 die Muslime dazu auf, dort, wo sie leben, das nichtislamische Recht zu akzeptieren – und es somit über die Scharia zu stellen. Zudem ist der Islam mit jeder politischen Ordnung vereinbar: Jeder der ersten vier Kalifen ist auf eine andere Art ins Amt gekommen. Derzeit heben islamische Theologen die binäre Weltsicht vom „Land des Islams“ und dem „Land des Krieges“ auf. Dazwischen setzen sie die Welt, in der die Muslime ihr Glaubensbekenntnis frei sprechen und ihre Religion frei ausüben können. Sie werden Bürger dieser Gesellschaften und haben damit auch Pflichten.
Der Islam stellt für ein Leben unter Nichtmuslimen keine politischen und rechtlichen Hürden auf, aber kulturelle. So akzeptieren Muslime die deutsche Rechtsordnung, ihre kulturelle Identität geben sie aber nicht (ganz) auf. Dadurch entstehen Spannungen: wenn eine muslimische Frau einen fremden Mann nicht mit Handschlag begrüßt; wenn einem Muslim die Religion heilig ist, dem aufgeklärten Abendländer aber die Meinungsfreiheit; wenn Muslime, in patriarchalischen Gesellschaften und Diktaturen sozialisiert, eine antisemitische Einstellung mitbringen.
So entsteht eine Ambivalenz. Ein Muslim will ein gewöhnlicher Staatsbürger sein, aber doch sichtbar verschieden. Wie viel hält unsere Gesellschaft davon aus, ohne dass es zum Zusammenstoß kommt?