Es ist noch nicht lange her, da wurde die Türkei von vielen als Modell für die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie gepriesen. Als EU-Beitrittskandidatin war sie angeblich ein unverzichtbarer Bestandteil der europäischen Ambitionen, Weltpolitik zu betreiben. Und wenn der Nahe Osten endlich am türkischen Wesen genese, könne auch die arabische Welt demokratisiert werden, hieß es oft. Seither hat sich viel getan. Wer bezeichnet die Präsidialdemokratur des Recep Tayyip Erdogan noch als Vorbild für den Nahen Osten oder irgendetwas anderes? Die Sogwirkung, die noch vor einigen Jahren von der Türkei auf viele nach Veränderung dürstende Araber ausging, ist fast vollständig dahin. In Syrien versucht die Türkei derzeit sogar, ihr autokratisches System zu exportieren.
Der türkische Angriff auf den mehrheitlich kurdisch besiedelten Kanton Afrin im Nordwesten Syriens soll nämlich nicht nur das Experiment einer regionalen Autonomie der syrischen Kurden beenden. Er soll es durch Erdogans Gesellschaftsmodell ersetzen. Mit den türkischen Panzern kommen Erdogans Ideen ins Land. Das gesellschaftspolitische Modell der drei kurdischen Kantone in Syrien, das insbesondere in Afrin wenigstens ansatzweise verwirklicht worden ist, steht so ziemlich allen Vorstellungen vom Aufbau einer Gesellschaft entgegen, wie sie Erdogan vertritt. Das gilt für die kurdische Quotenregelung zur Beteiligung von Frauen am öffentlichen Leben, die ausgeprägte Dezentralisierung und lokale Selbstverwaltung oder die nachgeordnete Rolle, die dem Islam zugestanden wird. All das soll es in einem türkisch „gesäuberten“ Afrin nicht mehr geben.