So war es lange Zeit in unserem Leben: Zu Silvester hin beruhigte sich die Agenda in der Türkei. Die Politikerkaste stellte ihre aufgeregten Reden ein, dank Zeitungen und Fernsehen spulte sich das ausgehende Jahr wie ein Filmstreifen noch einmal vor unseren Augen ab. Dabei hatte Amüsantes den Vorrang. Die Tagesordnung war geprägt von Nachrichten darüber, welche Künstler in der Silvesternacht im Fernsehen auftreten würden oder was man mit dem Hauptgewinn der Silvesterziehung im Lotto alles kaufen könnte.
Doch die sich im Land zunehmend ausbreitende Rückständigkeit erlaubt nun nicht einmal mehr diesen harmlosen Zeitvertreib zum Jahresende. In der Woche vor dem Jahreswechsel erlebten wir Perversitäten, die uns den Magen umdrehen und die Hoffnung auf kommende Jahre deutlich reduzieren. Wir beschlossen das Jahr mit Skandalen der Islamisten, die sich konservativ geben, in Gedanken aber ständig unter der Gürtellinie bewegen.
Die erste Meldung kam aus Izmir, einer der landesweit modernsten Städte. In islamistischen Stiftungen, denen der Staat Stück für Stück das Bildungssystem übereignet, wurden abermals kleine Kinder Opfer sexuellen Missbrauchs. Im Wohnheim eines islamistischen Verbands hatte ein dort tätiger Religionslehrer sieben Schülerinnen missbraucht. Als die Sache an die Presse durchsickerte, gab es einen Aufschrei in der Öffentlichkeit. Der Lehrer wurde verhaftet, doch niemand erfuhr, wem das Heim unterstand. In der Meldung über die Verhaftung nannten die Zeitungen weder den Namen des Heims noch, dass es der Süleymanci-Sekte angegliedert ist. Am Tag darauf gab es dann gar nichts mehr zu berichten, denn der Staat hatte über den Fall eine Nachrichtensperre verhängt.
Nicht ohne Grund reagierte die Regierung panisch. Im vergangenen Jahr waren in einem Wohnheim der Ensar-Stiftung zehn Kinder missbraucht worden. Die Rede ist wohlgemerkt von einer Stiftung, die ein AKP-Abgeordneter einmal als „von extremer Bedeutung bei der Gründung unserer Partei“ bezeichnet hatte. Der Regierung war bewusst, dass der Ruf von Ensar durch die Sache erheblich Schaden genommen hatte, also tat sie alles, um den jüngsten Fall von letzter Woche nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen. Erwähnt sei noch, dass der von der Regierung kontrollierte Mobilfunkanbieter Turkcell die Ensar-Stiftung finanziert.
Eine Woche nach dem Vorfall von Izmir gab ein Lehrer an einem staatlichen Religionsgymnasium eine sonderbare Erklärung ab. Der Lehrer Ercan Harmanci, als Zeitungskolumnist häufig bei Flugreisen Erdogans zu Gast, sagte: „Der Trainingsanzug, den Mädchen im Sportunterricht tragen, macht sie nackig.“ Von Mädchen im Trainingsanzug fühle er sich aufgereizt: „Entweder habe ich perverse Gefühle, oder Satan versucht andere nicht. Wenn euch Satan nicht versucht, wenn ihr die Figur eines jungen Mädchens seht, heißt das, ihr habt entweder eure Männlichkeit oder euren Glauben eingebüßt.“ Noch ein interessantes Detail dazu: Ein von diesem Lehrer verfasstes Buch wurde von der oben erwähnten Ensar-Stiftung herausgebracht. Welch ein Zufall, nicht wahr?