Nedim Salaharevic hat erleben müssen, welche Grausamkeiten Menschen anderen Menschen antun können, selbst wenn es die eigenen Nachbarn sind. Der heute 38 Jahre alte Mann lebte 1992 mit seiner Familie in Vlasenica, einem multiethnischen Städtchen im Osten Bosniens, als der Krieg über sie hereinbrach. „Die Serben, mit denen wir jahrelang friedlich zusammen gelebt haben, haben Jagd auf uns und andere Muslime im Ort gemacht“, erinnert sich der großgewachsene Mann und blickt über die Dächer der Stadt Tuzla, wo er heute lebt.
An den 13. September 1992 könne er sich noch ganz genau erinnern, sagt er. Während er, damals erst dreizehn Jahre alt, mit seiner Mutter in einem Bus Vlasenica verlassen darf, werden sein Bruder und sein Vater von Soldaten in ein Lager in der Nähe abtransportiert. Es ist der Tag, an dem Nedim sie zum letzten Mal sieht. Erst siebzehn Jahre später werden Knochen des Bruders in einem Massengrab entdeckt. Die sterblichen Überreste des Vaters sind bis heute nicht gefunden, aber neben dem Grab des Bruders hat Nedim einen Platz für sie reserviert.
Es ist nur eine von vielen traurigen Geschichten, die an diesem 22. November 2017 in Tuzla noch einmal erzählt werden – dem Tag, an dem im fernen Den Haag ein Mann verurteilt wird, den sie hier für das Leid ihrer Familien und den Tod ihrer Angehörigen verantwortlich machen: Ratko Mladic. 22 Jahre nach Kriegsende wird er in zehn von elf Anklagepunkten schuldig gesprochen und zu lebenslanger Haft verurteilt. Der 74 Jahre alte frühere General der bosnischen Serben, so entscheiden die Richter des Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, sei unter anderem verantwortlich für den Völkermord in Srebrenica und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Als um zehn Uhr morgens die Urteilsverkündung beginnt, sind die Straßen der drittgrößten Stadt Bosniens wie leergefegt. In den Cafés und Wohnhäusern laufen die Fernsehgeräte, viele Menschen warten gespannt auf die Übertragung aus den Niederlanden. Doch es gibt auch andere Stimmen: „Ich kann mir das nicht anschauen“, sagt eine Kellnerin. „Wie leben in der Gegenwart, ich will mich einfach nicht mehr mit der Vergangenheit beschäftigen.“
Viele bosnische Muslime waren in den Wirren des Krieges von 1992 bis 1995 in das von der bosnischen Armee kontrollierte Tuzla geflohen und leben bis heute hier. Auch aus Srebrenica, wo im Juli 1995 tausende Männer und Jungen ermordet wurden, kamen Zehntausende, fast ausschließlich Frauen mit ihren Kindern.
Ein Dutzend der „Zene Srebrenice“, der „Frauen von Srebrenica“, schaut sich den Richterspruch heute gemeinsam an. In einem kleinen Raum ihrer Organisation, an dessen Wänden viele Fotos von Vermissten und Ermordeten hängen, sind sie eng zusammengerückt und halten sich immer wieder an den Händen. Als sie im Fernsehen sehen, wie Ratko Mladic herumschreit und des Gerichtssaals verwiesen wird, können das einige von ihnen kaum ertragen. „Man sieht, dass er eine zutiefst böse Person ist“, sagt Mirsada Kahriman, die in Srebrenica vier Familienmitglieder verloren hat.
„Ich kann in Worten nicht beschreiben, was ich für diesen Mann empfinde“, sagt Vasvija Kadic, deren drei Brüder ermordet wurden. „Ich empfinde Genugtuung, wenn ich sehe, dass er da sitzt und sich alles anhören muss. Gleichzeitig überwiegt der Schmerz, dass er sich immer noch als unschuldig präsentiert.“
Kaum ist das Urteil gesprochen, bricht es aus Samija Jakubovic heraus. „Mladic lebt und unsere Liebsten sind tot, das ist doch noch nicht gerecht.“ Immer wieder habe sie während der Übertragung auf das Foto ihres Sohnes an der Wand geblickt. Es ist ein Bild aus besseren Tagen, vor dem Krieg aufgenommen „Er hat mich angelächelt“, sagt Samija und rückt sich das lila Kopftuch zurecht. Tränen laufen über ihre Wangen.
Einer der anwesenden bosnischen Journalisten erzählt, dass Serben in einigen Städten Poster aufgehängt hätten, auf denen Mladic als „Held“ gefeiert wird. „Das ist so schrecklich“, sagt Muniba Omerovic. „Es hat sich so wenig geändert. Viele Menschen tragen immer noch das Gift des Hasses in sich.“
Auch Nedim Salaharevic blickt alles andere als optimistisch in die Zukunft seines Landes. Hin und wieder spreche er mit ehemaligen Schulfreunden aus der Grundschule, bosnischen Serben, die weiterhin in Vlasenica leben. „Die wissen, was meiner Familie passiert ist, wissen, dass Menschen ermordet und Mädchen vergewaltigt wurden. Keiner hat je gesagt, dass es ihnen leid tut.“