Der „Islamische Staat“ (IS) ist unlängst aus dem syrischen Raqqa vertrieben worden. Damit hat er die letzte ihm verbliebene städtische Bastion verloren, nachdem er zuvor nach langen Kämpfen schon seine wichtigste irakische Basis, Mossul, hatte aufgeben müssen. Besiegt ist dieses „neue Kalifat“, das vor drei Jahren proklamiert worden war, indes noch nicht, doch dürfte seine Anziehungskraft durch die jüngsten militärischen Niederlagen und territorialen Verluste ziemlich gelitten haben.
Gleichwohl ist die Idee eines islamischen Kalifats nicht tot. Das nahöstliche Staatensystem, vor hundert Jahren durch westliche Mächte entworfen, droht zu implodieren. Die arabischen Nationalstaaten in dieser Region waren seither nicht besonders erfolgreich bei der Bewältigung wichtiger Probleme ihrer Bevölkerungen, zumal ihre Konzepte zu weiten Teilen dem europäischen politischen Denken entlehnt waren. Es war ein Import aus dem Westen.
Der Londoner Islamwissenschaftler Hugh Kennedy verfolgt in seinem neuen Buch die Geschichte des Kalifats von Mohammeds Tod bis zum „Islamischen Staat“. Sogleich nach Mohammeds Tod stellten sich jene Fragen, die zu dem „Modell“ des Kalifats führten: Wer soll Gottes Statthalter nach des Propheten Tod sein und wer Mohammeds Nachfolger (chalifa)? Damit verbunden war die Frage nach der prinzipiellen Struktur der Gemeinschaft der Muslime. Wer sollte herrschen, und wie sollte man sich organisieren? Sollte man den Nachfolger wählen, oder sollte das Prinzip der Abstammung zum Tragen kommen?
Früh kam die Vorstellung auf, der Kalif müsse aus dem großen Stamm der Quraisch (Koreischiten) hervorgehen wie der Prophet Mohammed selbst. Bis heute sind Fragen der – auch im weitesten Sinne religiös definierten – Legitimität in der islamischen Welt von großer Brisanz. Noch in den neunziger Jahren stritten arabische Führer darüber, wer von ihnen qua Abkunft und religiöser Tradition zur Herrschaft am besten legitimiert sei.
Nachdem die ersten Kalifen, die man als die Rechtgeleiteten (raschidun) bezeichnet, von einer Schura gewählt worden waren, wurde das Prinzip der Abstammung immer wichtiger, ging am Ende in ein dynastisches Prinzip (allerdings ohne Primogenitur) über. Besonders wichtig war dies für die Partei der Schiiten, die Anhänger Ali Ibn Abi Talibs, des leiblichen Vetters und Schwiegersohnes des Propheten, der nach Auffassung seiner Anhänger, der Aliden, von der sunnitischen Mehrheit um die Herrschaft betrogen worden war. Die Ermordung Alis im Jahr 661 sowie seines Sohnes Hussein im Jahr 680 machte die Spaltung in Schiiten und Sunniten endgültig. Eine dritte Partei, die extrem egalitären Charidschiten, vertrat die Auffassung, nicht Abstammung oder Wahl allein seien das Kriterium für die Legitimität eines Kalifen, sondern seine Frömmigkeit; der Frömmste müsse herrschen, „und sei er ein schwarzer Sklave“. Noch heute gibt es diese kleine Minderheit in Oman, im Süden Algeriens und auf der tunesischen Insel Djerba.
Ausführlich widmet sich Kennedy dann den beiden Kalifaten der Umayyaden (661 bis 750) und Abbasiden (751 bis 1258). Unter ihren Herrschern, für die so bekannte Persönlichkeiten wie Abd al Malik (der Erbauer des Felsendoms zu Jerusalem) oder der „Märchenkalif“ Harun al Raschid stehen, erlebte die islamische Zivilisation ihren höchsten Glanz, der bis heute seine Wirkung auf die Muslime in aller Welt nicht verfehlt. Unter beiden Dynastien nahm das Kalifat sozusagen Modellcharakter an, wurden seine Institutionen sowie das islamische Rechtssystem ausgeprägt. Dabei waren beide Kalifate durchaus verschieden.