AhlolBayt News Agency (ABNA)

source : Islam.de
Sonntag

3 Dezember 2017

06:32:58
870624

Irak

"Wir waren zu dumm"

Ohne den Irakkrieg würde es den "Islamischen Staat" heute nicht geben - das gibt der damalige Chef der Special Forces, Mike Flynn, zu. Hier erklärt er, wie der IS sich professionalisierte und warum er dessen Chef Baghdadi laufen ließ.

Zur Person
Michael Flynn, 56, diente mehr als 30 Jahre in der US-Armee, zuletzt als Chef des Militärgeheimdienstes DIA. Zuvor war er stellvertretender Geheimdienstkoordinator der US-Regierung. Von 2004 bis 2007 war er in Afghanistan und dem Irak stationiert, als Kommandeur der US-Spezialkräfte jagte er im Irak den Top-Terroristen Abu Mussab al-Sarkawi, einen der Vorgänger des heutigen Chefs des "Islamischen Staats", Abu Bakr al-Baghdadi. Nachdem Flynns Männer Sarkawi lokalisiert hatten, wurde Sarkawi im Juni 2006 durch einen US-Luftschlag getötet. Matthias Gebauer und Holger Stark trafen Flynn bei Washington zum Interview.

Flynn: Es gab jede Menge strategische und taktische Warnungen und Berichte. Der IS selbst hat gesagt, er plane im Ausland Anschläge. Die Leute haben die Warnungen nur nicht ernst genommen. Als ich von Paris hörte, dachte ich: Oh, Gott, jetzt geht es wieder los - und wir waren nicht aufmerksam genug. Die Veränderung, um die wir uns mehr kümmern sollten, ist, dass es in Europa mittlerweile in jedem Land eine eigene Führungsstruktur gibt. Das gilt wohl auch für die USA, auch wenn wir es noch nicht erkennen können.

SPIEGEL ONLINE: Sie meinen eine Art regionale Führung, mit eigenen Emiren?

Flynn: Genau. Schon Osama Bin Laden redete von Diversifizierung, von einer breiten Aufteilung. Operiere in kleineren, dezentralen Einheiten, mit denen es leichter ist, zu agieren, die aber schwerer aufzuspüren sind. In Paris waren es acht Leute, in Mali zehn. Nächstes Mal reichen vielleicht ein oder zwei.

SPIEGEL ONLINE: Kann ein solcher Anschlag ohne Koordination und Autorisierung aus Syrien erfolgt sein?

Flynn: Natürlich. Wir dürfen nicht den Fehler machen, in westlichem Denken verhaftet zu sein. Ich halte es für sehr gut möglich, dass ein 30-Jähriger nach Diskussionen mit der Führung nach dem Training den Auftrag erhält, etwas im Namen seiner Religion zu tun. Die Ziele sucht er dann selbst aus, organisiert ein Angreifer-Team und schlägt zu.

SPIEGEL ONLINE: An der Spitze des IS steht der selbst ernannte Kalif Abu Bakr al-Baghdadi. Was für eine Art Führer ist er?

Flynn: Ich halte es für entscheidend, die Unterschiede zu Osama Bin Laden oder Aiman al-Sawahiri zu verstehen. Bin Laden und Sawahiri saßen in ihren Videos stets im Schneidersitz vor einer Flagge, mit einer AK-47 im Schoß. Sie präsentierten sich als Krieger. Baghdadi hingegen inszeniert sich in einer großen Moschee in Mossul, auf dem Balkon, wie der Papst. Er trat in einer schwarze Robe auf, als heiliger Gelehrter und deklarierte das Kalifat. Das war ein sehr, sehr symbolischer Auftritt, der den Kampf auf eine neue Ebene gehoben hat, von einer militärischen, taktischen und lokalen Auseinandersetzung zu einem religiösen und globalen Krieg.


Mehr zum Terror des "Islamischen Staats" lesen Sie im aktuellen SPIEGEL.


SPIEGEL ONLINE: Was würde sich ändern, wenn Baghdadi getötet würde?

Flynn: In der Vergangenheit haben wir immer gesagt: Lasst uns die Führer ausschalten, der Nachfolger wird nicht so gut sein. Das hat nicht funktioniert. Baghdadi ist besser als Abu Mussab al-Sarkawi, und Sarkawi war bereits besser als Bin Laden.

SPIEGEL ONLINE: Durch Baghdadis Tod würde sich also nicht viel ändern?

Flynn: Überhaupt nicht. Er könnte sogar jetzt tot sein, vielleicht ist er es bereits, man hat ihn ja länger nicht in der Öffentlichkeit gesehen. Ich hätte Bin Laden und Sarkawi viel lieber gefangen genommen als getötet, weil man ihnen einen Gefallen tut, wenn man sie umbringt. Sarkawi war ein wildes Tier, das den Rest seines Leben in einer Zelle hätte verbringen sollen. Durch das Töten macht man sie zu Märtyrern. Das werden wir im Westen nie ganz verstehen.

SPIEGEL ONLINE: Was macht Baghdadi anders als sein Vor-Vorgänger Sarkawi, der al-Qaida im Irak zwischen 2003 und 2006 anführte?

Flynn: Sarkawi hat sich zwar um ausländische Kämpfer bemüht, aber selbst zu seinen Hochzeiten kamen nicht mehr als 150 pro Monat aus einem Dutzend Ländern. Baghdadi zieht bis zu 1500 ausländische Kämpfer pro Monat an, aus mehr als hundert Ländern. Er nutzt die modernen Waffen des Informationszeitalters in einer grundsätzlich anderen Art, um online die Attraktivität seiner Ideologie zu steigern. Der zweite Punkt ist die Auswahl der Ziele. Sarkawi war brutal, er hat beliebig Menschen im Stadtzentrum von Bagdad in die Luft gesprengt, die sich beispielsweise auf der Suche nach Arbeit in einer Schlange auf der Straße angestellt hatten. Baghdadi ist viel smarter und präziser in seiner Zielauswahl, aber trotzdem sehr bösartig.

SPIEGEL ONLINE: Wer entscheidet über die militärischen Operationen?

Flynn: Al-Baghdadi oder der aktuelle Führer hat sicherlich einen Zugriff auf die militärischen Operationen, aber die Organisation hat sehr flache, netzwerkartige militärische Strukturen. In Syrien, dem Irak und der Levante gibt es unterhalb von Baghdadi Untergebene, die für die militärischen, logistischen und finanziellen Operationen verantwortlich sind, das sind Ägypter, Saudis, Tschetschenen, Dagestani, Amerikaner und Europäer. Wir wissen aus Verhören, dass Rakka in internationale Zonen unterteilt ist, in denen es Dolmetscher gibt, um die Kommunikation zu gewährleisten. Das alles erfordert eine militärartige Struktur und Führung.

SPIEGEL ONLINE: Wie lässt sich dieser Gegner bekämpfen?

Flynn: Die traurige Wahrheit ist, dass wir Soldaten am Boden einsetzen müssen. Wir werden den Feind nicht aus der Luft besiegen. Zuerst gilt es, dem IS sein Territorium wegzunehmen, dann für Sicherheit und Stabilität zu sorgen, die Flüchtlinge müssen ja in ihre Heimat zurückkehren. Natürlich wird das nicht schnell gehen, wir müssen die gesamte Führung des IS finden und ausschalten, ihr Netzwerk zerstören und ihre Finanzflüsse stoppen - und dort auch bleiben, bis Normalität eingekehrt ist.

SPIEGEL ONLINE: Dafür müsste der Westen mit den Russen kooperieren.

Flynn: Wir müssen jetzt konstruktiv mit Moskau zusammenarbeiten. Russland hat sich entschieden, in Syrien militärisch zu handeln, und das hat die Lage dramatisch verändert. Wir können nicht mehr sagen, dass Russland böse ist und sich zurückziehen soll. Das wird nicht passieren, seien wir realistisch. Schauen sie sich die letzten Tage an. Da kommt der französische Präsident Hollande nach Washington und bettelt um militärische Hilfe. Als Amerikaner finde ich das merkwürdig. Wir als USA müssten schon längst bei ihm gewesen sein und ihm Unterstützung angeboten haben, weil er angegriffen wurde. Nun geht er nach Moskau und versucht es dort.

SPIEGEL ONLINE: Eine westliche Militärintervention birgt die Gefahr, dass sie in der Region als ein neuer Eroberungsfeldzug des Westens angesehen würde.

Flynn: Deswegen brauchen wir die Araber als Partner, sie müssen das Gesicht der Operation sein - auch wenn sie heute dazu nicht in der Lage sind, das können nur die USA tun. Wir wollen Syrien nicht erobern oder einnehmen. Unsere Botschaft muss sein, dass wir helfen wollen und wieder gehen werden, sobald die Probleme gelöst sind. Die arabische Welt muss Teil dieser Strategie sein. Wir müssen sie einbinden. Und wenn wir sie erwischen, Kuwait zum Beispiel, dass sie weiter den IS finanzieren, müssen wir sie mit Sanktionen und anderen Aktionen bestrafen.

SPIEGEL ONLINE: Im Februar 2004 hatten Sie Abu Bakr al-Baghdadi bereits einmal in ihren Händen, als er festgenommen und in ein Gefangenenlager im Irak überstellt wurde. Doch eine US-Militärkommission stufte ihn im Dezember 2004 als unbedenklich ein, er wurde entlassen. Wie konnte es zu diesem fatalen Fehler kommen?

Flynn: Wir waren zu dumm. Damals haben wir nicht verstanden, mit wem wir es zu tun hatten. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 war unsere emotionale Reaktion zu fragen: "Woher kamen die Bastarde? Lasst sie uns töten!" Anstatt zu verstehen, warum sie angegriffen haben, haben wir nach dem Wo gefragt: Woher kamen die Attentäter? Dabei sind wir strategisch in die falsche Richtung marschiert.

SPIEGEL ONLINE: Sie sind im Irak einmarschiert, obwohl Saddam Hussein nichts mit 9/11 zu tun hatte.

Flynn: Zuerst sind wir nach Afghanistan gegangen, wo al-Qaida war. Danach sind wir in den Irak gezogen. Anstatt uns zu fragen, warum es dieses Phänomen gibt, haben wir nach Orten gesucht. Diese Lektion müssen wir lernen, um nicht immer wieder die gleichen Fehler zu machen.

SPIEGEL ONLINE: Den IS gäbe es nicht, wenn die Amerikaner nicht 2003 in Bagdad eingefallen wären. Bedauern Sie…

Flynn: …ja, absolut…

SPIEGEL ONLINE: …den Irakkrieg?

Flynn: Das war ein riesiger Fehler. So brutal Saddam Hussein war - ihn nur zu eliminieren, war falsch. Das Gleiche gilt für Gaddafi und Libyen, das heute ein failed state ist. Die große historische Lektion lautet, dass es eine strategisch unglaublich schlechte Entscheidung war, in den Irak einzumarschieren. Die Geschichte sollte und wird über diese Entscheidung kein mildes Urteil fällen.