Die Ermordeten waren Migranten, gut integriert, wie man das nennt. Einfache Leute, eines der Opfer betrieb einen Gemüseladen. Nach ihrem Tod verdächtigte die Polizei zunächst Verwandte. Später stellte sich heraus: Die Täter waren Neonazis.
Das klingt vertraut? Sie denken vermutlich an den NSU und seine Taten. Doch der Fall ist älter, 25 Jahre bereits.
In Mölln, einer Kleinstadt in Schleswig-Holstein, wurden am 23. November 1992 drei Menschen ermordet. Neonazis warfen um Mitternacht Molotowcocktails in ihr Haus, in den Flammen starben zwei Mädchen, 10 und 14 Jahre alt, und ihre Großmutter, 51 Jahre alt. Sie starben, weil sie einen türkischen Migrationshintergrund hatten.
Es ist erschreckend, wie einfach sich von Mölln eine Linie nach München ziehen lässt, wo gerade der NSU-Prozess seinem Ende entgegengeht. Die Opfer tragen türkische Namen, so wie Gemüsehändler Süleyman Tasköprü, der vom NSU 2001 in Hamburg ermordet wurde. Auch Bahide Arslan betrieb einen Gemüseladen - und verbrannte in Mölln 1992 bei lebendigem Leibe.
Genau wie damals ermittelten die Behörden zunächst unter den Angehörigen. Vielleicht ist es das, was Nebenklägeranwalt Mehmet Daimagüler im NSU-Prozess kürzlich "institutionellen Rassismus" nannte. Dass die Polizei, aber auch die Medien oder die Bevölkerung, bei toten Migranten immer zuerst an Familienfehden denkt. An Clans vielleicht oder an organisierte Kriminalität.
Ibrahim Arslan hustet. Eigentlich die ganze Zeit. Seit er in den Flammen seine Schwester Yeliz, die Cousine Ayse Yilmaz und seine Großmutter Bahide verlor, hat er diesen Husten, sagt Arslan.
Husten als Symptom einer posttraumatischen Belastungsstörung
Er steht vor dem Haus in der Mühlenstraße in Mölln, wie jedes Jahr an diesem Tag. Arslan hat eine Gedenkveranstaltung organisiert, er trägt einen langen Mantel, Krawatte und Lederschuhe. Immer wieder umarmt er Verwandte und Mitstreiter.
Dazwischen hustet er. Das sei ein Symptom einer posttraumatischen Belastungsstörung, sagt Arslan. Und je näher der Jahrestag rückt, umso schlimmer werde es.
Arslan war sieben, als seine Großmutter ihn in feuchte Tücher wickelte und vor den Flammen rettete. Er überlebte die Nacht. Seit jenem Tag beschäftigt er sich mit der Tat. "Andere haben mit Matchbox-Autos gespielt, ich habe über Rassismus nachgedacht", sagt er. Er fragte sich, warum gerade seine Familie ausgesucht worden sei. Und warum seine Schwester starb.
Damals, vor 25 Jahren, war das Land in Aufruhr, der Hass auf Migranten zeigte sich nach der Wende wieder deutlich. Bei den Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen konnte man ihn sehen, nur wenige Monate vor Mölln.
Doch in Mölln gab es Tote. Die Täter wurden nach dem Anschlag festgenommen, die Bundesanwaltschaft übernahm den Fall. Die 25- und 19-jährigen Neonazis aus Mölln und dem nahegelegenen Gudow wurden wegen Mords und Mordversuchs zu Lebenslänglich und zehn Jahren Jugendhaft verurteilt. Inzwischen sind sie wieder frei.
Die Attacke von Mölln war eine Zäsur in einer ohnehin schon aufgeheizten Zeit. Rassistische Gewaltakte häuften sich nach der deutschen Einheit. Nur wenige Monate nach Mölln starben in Solingen, Nordrhein-Westfalen, fünf Menschen mit türkischen Wurzeln bei einem von Rechtsextremen verübten Attentat.
Heute sorgt Arslan für Ordnung
Die Welt blickte geschockt auf Deutschland. Doch auch die Bevölkerung reagierte schockiert: Lichterketten wurden entzündet, Initiativen gegründet.
Bis heute kämpft der 32-jährige Ibrahim Arslan gegen Ressentiments, spricht in Schulen und organisiert Veranstaltungen. Im Hauptberuf arbeitet er im Ordnungsamt. "Ich schreibe Strafzettel", sagt er. Er lebt nicht mehr in Mölln, sondern in einer Stadt in der Nähe, genauer will er es nicht in der Öffentlichkeit lesen.
Wie tief die Wunde in seiner Familie noch immer ist, kann man am Gedenktag sehen. Die Stadt Mölln hat ein ausführliches Programm vorbereitet, das schon vor dem 23. November begonnen hat.
Am Tag werden Kränze niedergelegt, der Bürgermeister spricht und Staatsministerin Aydan Özuguz, außerdem Abgeordnete, ein Botschafter. Im Pressedossier zählt die Stadt auf vielen Seiten und einem Dutzend Bulletpoints auf, was seit jenem Tag im November passiert ist: Gedenktage, Sportveranstaltungen gegen Rassismus, Beratungsangebote und Beiräte.
Doch Ibrahim Arslan findet, dass er noch immer wie ein Opfer zweiter Klasse behandelt werde, wie ein Statist in einer inszenierten Veranstaltung. Er fordert, dass für die drei Todesopfer auch drei Straßen umbenannt werden - und nicht nur eine, so wie jetzt. Auch die "Möllner Rede", für die seine Familie immer die Redner ausgesucht hatte, sei 2012 abgeschafft worden.
Nächstes Jahr wird er trotzdem wiederkommen und sich vor das Haus in der Mühlenstraße stellen, Man könne die Gegenwart nur verstehen, wenn man in die Vergangenheit blicke, sagt er. "Deswegen bin ich jedes Jahr hier."