"Geh auf keinen Fall hin, schon gar nicht, wenn du eine andere Hautfarbe hast", heißt es in einer Facebook-Gruppe für nichtpolnische Einwohner des Landes. "Am besten ist ein gemütlicher Tag zu Hause, die Geschäfte haben ja ohnehin zu." Die Rede ist vom 11. November. An diesem Tag feiert Polen seine Unabhängigkeit, die es nach dem ersten Weltkrieg erlangte. Zuvor war Polen unter Russland, Preußen und Österreich-Ungarn aufgeteilt und existierte für 123 Jahre nicht auf der Landkarte. Die polnische Nation war nur ein kurzes Zwischenspiel vor dem Einfall der Nazis, und dem Holocaust. Es folgten Stalin und Sozialismus, erst 45 Jahre später wurde Polen endgültig unabhängig.
Die Polen sind stolz auf ihre noch junge Demokratie. Zwölf verschiedene Großveranstaltungen wurden allein in Warschau zum Unabhängigkeitstag angemeldet, darunter ein Zehn-Kilometer-Lauf mit 18.000 Teilnehmern, eine Motorrad-Parade, und die offizielle Kranzniederlegung am Rande der Altstadt. Vor allem aber versammelten sich wieder Rechtsextreme zu einem der größten Aufmärsche Europas. In diesem Jahr nahmen Polizeiangaben zufolge rund 60.000 Menschen teil. Ihnen standen etwa 1.000 linke Gegendemonstranten gegenüber.
Rechtsextremer Aufmarsch im Herzen der Stadt
Patrioten und Rechtsextreme – die Grenzen sind fließend – aus Polen, aber auch Extremisten aus Ungarn, Schweden, der Slowakei und anderen Ländern treffen sich zu diesem Termin seit einigen Jahren. Der Aufmarsch findet mitten in Warschau statt, wird von Stadt-, Land- und Bundesregierung geduldet und von höchster Stelle als patriotische Veranstaltung beworben. Tausende Polizisten schützen den Marsch. Dass die Teilnehmer und Gastredner offen rassistische und antiislamische Reden schwingen, stört niemanden.
Begonnen haben die Märsche zum polnischen Unabhängigkeitstag 2009, damals noch mit wenigen Hunderten, ausschließlich polnischen Teilnehmern. Mittlerweile kommen jedes Jahr bis zu 100.000 Menschen. Dass der Marsch ausgerechnet in Warschau stattfindet, ist aus mehreren Gründen paradox: Warschau lag 1945 in Schutt und Asche, das Land war durch Holocaust und Krieg traumatisiert. Die Polen müssten wissen, wohin Faschismus und Extremismus führen können. Zudem galt Polen bis vor Kurzem als Musterbeispiel der europäischen Integration. Man war stolz auf den Eintritt in die Nato und dann 2004 in die EU. Kein anderes osteuropäische Land hat so schnell und effektiv die Transformation vom Sozialismus zum Kapitalismus geschafft, die demokratischen Institutionen schienen stark und stabil.
Doch spätestens seit die regierende Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) im Sommer eine umstrittene Justizreform durchgesetzt hat, fürchten viele in der EU eine ähnliche Entwicklung wie in Viktor Orbáns Ungarn. Dazu kommt der Fremdenhass. Obwohl Polen bis heute keine Flüchtlinge aufgenommen hat und das Land ethnisch und religiös so homogen ist wie kaum ein anderes in Europa, existiert große Angst vor dem Islam. Nach den Terroranschlägen in Deutschland und Frankreich im vergangenen Jahr ließ die Stadtregierung Informationen aushängen, was im Fall eines Attentats zu tun sei. Auf diese Art wurde von der Politik Angst geschürt, auch schon während des Wahlkampfs für Parlament und Präsidentschaft Ende 2015. Die in Polen mächtige katholische Kirche zog mit, genauso wie der öffentliche Rundfunk und die meisten privaten Medien. Islamophobie wurde zum Mainstream.
Gemäßigte und extreme Patrioten
"Es ist wichtig nicht zu vergessen, dass Polens Unabhängigkeit erst mühsam erkämpft werden musste", sagt der Pensionär Peter S. Er ist zur offiziellen Feier am Piłsudski-Platz gekommen. Nach Ansprachen von Präsident und militärischem Oberbefehlshaber werden Kränze niedergelegt, sowohl am Grab des unbekannten Soldaten als auch am Grab von Marschall Józef Piłsudski, dem polnischen General und Politiker, der Polen nach dem Ersten Weltkrieg in die Unabhängigkeit geführt hat. Zwischendurch feuern sechs Haubitzen in die Luft, so laut, dass man es tief im Bauch spürt. Viele Menschen sind nicht gekommen; nur die ersten Reihen vor dem Grab des Unbekannten Soldaten sind besetzt, darunter Peter S. Der frühere Diplomingenieur ist stolz auf sein Land und will das auch zeigen. Der Marsch der Rechten hat seiner Ansicht nach nichts zu tun mit den normalen Polen, die einfach nur feiern wollen: "Da kommen viele von weither und wollen einfach nur stänkern und sich prügeln."
Die selbsternannten Patrioten gruppieren sich schon am Vormittag auf der Aleje Jerozolimskie. Laut Plan soll der Marsch um 14 Uhr beginnen, tatsächlich geht es erst anderthalb Stunden später los. Zunächst sprechen Vertreter rechter Gruppierungen aus Italien, Ungarn und anderen Ländern. Immer wieder fallen die Worte "Immigration" und "Islam", Sprecher rufen zum Kampf gegen Liberale und zur Verteidigung des Christentums auf. Rechte Parolen werden skandiert, die Luft über der Menschenmenge trübt bald der rötlich gefärbte Rauch von Knallkörpern.
Es sind vor allem Männer hier, junge und alte, viele mit rot-weißen Armbinden, dem Ankersymbol des Warschauer Aufstands 1944 und dem Eisernem Kreuz. Die Stimmung ist martialisch, insbesondere rund um den nahe gelegenen Kulturpalast versammelt sich die extreme Rechte. Auf dem Boden liegen unzählige leergetrunkene Wodkaflaschen, dank der 24-Stunden-Alkoholshops ist auch am Feiertag immer für Nachschub gesorgt. Wer die Menschenmasse sieht, kann verstehen, weshalb manche Bewohner Warschaus die Innenstadt am 11. November inzwischen meiden.