Der Umstand, dass junge Muslime es für die Erfüllung ihres Lebens halten, Menschen, die sie nicht kennen und die ihnen kein Leid angetan haben, mit einem Auto zu überfahren, mit Äxten zu zerhacken oder mit Sprengstoff in Stücke zu reißen, ist erklärungsbedürftig. Insbesondere wenn es sich um Jugendliche handelt, die in Europa geboren und aufgewachsen sind und keine traumatisierenden Kriegserfahrungen besitzen.
Beunruhigend ist, dass die Angriffe auf Fahrgäste öffentlicher Verkehrsmittel, auf Passanten in Fußgängerzonen, auf Besucher von Musikveranstaltungen, auf Kunden von Supermärkten und in Finnland auch auf eine einen Kinderwagen schiebende Mutter explizit im Namen des Islams durchgeführt wurden. Dass die Täter ihren eigenen Tod nicht nur in Kauf nehmen, sondern geradezu anstreben, verstört zusätzlich. Warum radikalisieren sich junge Muslime in der beschriebenen Form? Was treibt sie um, und was wollen sie? Die Wissenschaft hat bislang drei Erklärungsansätze vorgelegt, die nicht unbedingt kompatibel sind. Der erste behauptet, der Islam habe ein intrinsisches Gewaltproblem und müsse sich grundlegend reformieren, um potentiellen Attentätern die Legitimationsgrundlage zu nehmen. Der zweite unterscheidet zwischen Islam und Islamismus, wobei Letzterer als radikale Sonderform einer im Normalfall friedlichen Religion definiert wird. Der dritte versucht, Gründe jenseits der Religion zu identifizieren, und behauptet, der Islam werde von Extremisten lediglich als wohlfeile Maske missbraucht, hinter der sich ganz andere Motive verbergen.
Rächer einer erniedrigten islamischen Gemeinschaft
Der französische Politologe Olivier Roy hat sich einen Namen als Vertreter der letzten These gemacht und stets bekundet, der Terrorismus sei keine Folge der Radikalisierung des Islams, sondern der Islamisierung der Radikalität. Er wurzele im Wesentlichen gerade in der Entfremdung der Muslime von islamischen Traditionen. In seinem neuen Buch, das im Französischen den schlichten Titel „Le djihad et la mort“ trägt, in der deutschen Übersetzung durch die Verwendung eines berühmten Zitats des Al-Qaida-Führers Abu Dudschan al-Afghani aber einen deutlich dramatischeren Titel erhalten hat, führt er diesen Ansatz erwartungsgemäß weiter. Anhand der Biographien von Attentätern zeigt er, dass diese sich zu Lebzeiten wenig um die Normen ihrer Religion geschert hatten, dass sie Alkohol und Drogen konsumierten, Freundinnen hatten und kriminell wurden. Zudem sei ihre religiöse Bildung wenig fundiert gewesen. Vielmehr versuchten sie, sich in der Öffentlichkeit als Superhelden zu präsentieren und als ultimative Rächer einer erniedrigten islamischen Weltgemeinschaft aufzuspielen.