Herr Professor Clark, seit wann gibt es eigentlich ein europäisches Bewusstsein?
Gibt es so etwas wie einen Roten Faden, der sich durch die europäische Geschichte zieht?
Clark: Europas Werdegang ist keineswegs eine Einbahnstraße von den alten Griechen bis zur EU. Charakteristisch sind vielmehr die zahllosen Umbrüche und Diskontinuitäten: Der Kontinent schwingt zwischen Einheit und Konkurrenz hin und her, ist Schauplatz schlimmster Kriege, aber auch Ursprungsort von Vernunft, Friedensordnungen und Aufklärung. In unserer Fernsehserie stellen wir die italienische Stadt Siena mit ihrem jährlichen Pferdewettkampf als Sinnbild für Europa vor: Es herrscht eine teilweise gnadenlose Konkurrenz, es gibt Bestechung und manchmal auch Gewalt. Und dennoch gibt es einen unglaublichen Zusammenhalt in der Stadt. Das ist Europa im Kleinen.
Gibt es auch geografische Erklärungen für das Werden Europas?
Clark: Eigentlich ist Europa nur eine kleine Halbinsel am westlichen Ende Asiens. Es hat vergleichsweise lange Küsten und sehr unterschiedliche geografische Räume, die zum Beispiel durch die Alpen strukturiert werden. Das lässt Raum für die Entwicklung sehr unterschiedlicher autonomer Gesellschaften, aber zwingt dann eben auch zur Zusammenarbeit.
Bis weit ins 17. Jahrhundert sah es so aus, als ob China die weitaus fortschrittlichste und kreativste Region der Welt sei. Warum hat Europa dann doch das Rennen gemacht?
Clark: Bis vor kurzem war die These vorherrschend, dass China als Riesenreich mit nur einem Machtzentrum zu selbstgenügsam war. Ich glaube, das ist zu kurz gedacht. Richtig ist, dass in Europa durch die unterschiedlichen Staaten und Herrschaftsformen eine riesige Konkurrenz herrschte. Das führte dann zu einem Wettlauf, etwa um Eroberungen in Afrika, Asien und Amerika. Große Energien wurden freigesetzt. Zur richtigen Zeit gewannen die Europäer damit auch Rohstoffe und Bodenschätze, erwarben neues Wissen. Es gibt viele Faktoren, die zu einer neuen Dynamik führten, so dass Europa China überrunden konnte. Diese Entwicklung war aber keineswegs zwangsläufig.
Welche Bedeutung schreiben Sie dem Christentum in Europa zu?
Clark: Es ist absolut zentral. Die kirchliche Verwaltungslogik findet sich noch heute in unserem Rechtssystem. Europas Stadtpläne zeigen die Bedeutung der Kirchen. Und die wichtigsten und ältesten Städte haben sich aus den mittelalterlichen Diözesan-Sitzen entwickelt.