heute.de: Sie waren vor kurzem in Mossul. Wie können Sie die Lage vor Ort beschreiben?Gerhard Trabert: Ich war im Juli mit der Hilfsorganisation CADUS in West-Mossul, in der Nähe der Altstadt, wo die Kämpfe stattfanden. Die Organisation betreibt dort ein sogenanntes mobiles Hospital, um schwerverletzte Soldaten und Zivilisten zu behandeln. Das geht eigentlich nur in Zusammenarbeit mit der irakischen Armee, weil man nur so unmittelbar an der Frontlinie aktiv werden kann. Die Abmachung war einfach: Wir behandeln schwer verletzte Soldaten und dürfen dafür auch Zivilisten behandeln, und sie geben uns Schutz.
heute.de: Welche Art von Verletzungen mussten Sie behandeln?Trabert: Hauptsächlich Schussverletzungen. Aber natürlich auch die ganz "normalen" Erkrankten. Als ich dort war, waren die Kämpfe allerdings fast beendet. Meine Vorgänger hatten noch 15 bis 20 Schwerverletzte am Tag zu versorgen. Bei uns waren es etwas weniger, vor allem Zivilisten, die in Sprengfallen vom IS geraten sind oder von Granatsplittern zerfetzt wurden. Aber es kamen auch - und das hat mich besonders getroffen - sehr viele Mütter mit Kindern, die vom IS als Schutzschild missbraucht wurden. Manche waren Monate irgendwo eingesperrt und haben einen stark unterernährten Eindruck gemacht. Besonders viele Kinder, die nicht mehr essen wollen und sichtlich verstört waren. Bei vielen waren die Eltern nicht mehr auffindbar, die meisten sind sehr wahrscheinlich tot.
heute.de: Wie haben Sie diese Kinder behandelt?Trabert: Wir konnten nur die körperlichen Leiden behandeln. Wichtiger wäre natürlich die Behandlung des psychischen Traumas, das fast alle Kinder dort erlitten haben. Man unterscheidet zwischen primärer und sekundärer Traumatisierung, also dem, was die Kinder im Krieg selbst erleiden müssen, und dem, was sie mit ansehen müssen. Kommt es dann nicht zu einer Behandlung, also etwa der Möglichkeit, über das Erlebte reden zu können oder es zu verarbeiten, sind die Auswirkungen gravierend und führen zu einer Chronifizierung des Traumas. Dann spricht man von einer tertiären Traumatisierung.heute.de: Können Ärzte in diesen Fällen vor Ort überhaupt helfen?Trabert: Nein, eine Traumabehandlung findet im Irak so gut wie nicht statt. Die findet ja bei betroffenen Kindern auch ganz selten bei uns in Deutschland statt. Dabei macht gerade die tertiäre Traumatisierung deutlich, wie wichtig eine schnelle Behandlung ist. Das kann man hierzulande auch bei vielen geflüchteten Menschen beobachten: Die psychischen Folgen traumatisierender Erlebnisse wie Krieg, Verfolgung, Flucht, Folter oder sexuellem Missbrauch führen oft zu Depressionen und einer erhöhten Suizidalität.
heute.de: Wie gut haben die Behörden im Irak da bei der Behandlung kooperiert?Trabert: Unterschiedlich, oft fehlte die Transparenz des irakischen Handelns. Das zeigt ein Beispiel von einem etwa fünfjährigen tschetschenischen Mädchen, das uns ins mobile Hospital geschickt wurde. Die irakische Armee hatte es in der Altstadt aus einem Erdloch gezogen. Die Eltern waren IS-Kämpfer. Der Vater wurde durch eine Explosion getötet, die Mutter vor den Augen des Mädchens erschossen, als sie versuchte, die irakischen Soldaten zu töten. Nach einer körperlichen Untersuchung wollte der irakische Geheimdienst das total erschöpfte Mädchen übernehmen und verhören. Wir vermittelten den Soldaten, dass wir damit nicht einverstanden sind. Dazu gibt es auch eindeutige internationale Bestimmungen: Unbegleitete Kinder sind einer internationalen Organisation zu übergeben, etwa Save The Children.
heute.de: Mussten Sie das Mädchen schließlich übergeben?Trabert: Es ging hin und her. Wir haben uns mit hohen Militärs unterhalten und immer wieder unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass wir unsere Kooperation mit der irakischen Armee beenden und Mossul verlassen würden, sollte das Mädchen nicht bei uns bleiben. Wir stellten sogar unsere Arbeit vorübergehend ein. Da auch das Mädchen selbst signalisierte, dass es bei uns bleiben möchte, gab der Oberstleutnant vorläufig nach. Man gab uns zu Bedenken, dass das Kind bestimmt das fortsetzen würde, was schon seine Eltern getan hätten. In unserem Camp wurde das Mädchen dann geduscht, eingekleidet und bekam zu essen. Mit der Zeit entwickelte sie etwas Vertrauen zu uns. Ich habe mit ihr, in meiner Hilflosigkeit und dem Suchen nach Ablenkung, auf meinem Notebook eine Folge Sendung mit der Maus geschaut, das hat ihr gefallen. Nach langen, zum Teil sehr heftigen Diskussionen, konnten wir das Mädchen schließlich der Hilfsorganisation Save the Children übergeben. Es bleibt die Frage: Was geschieht wirklich in einer Kriegsregion, im Irak, mit all den unbegleiteten Kindern und Jugendlichen.heute.de: Wie steht es um die medizinische Versorgung in Mossul im Allgemeinen?Trabert: Die ist katastrophal. Es gibt zwar intakte Krankenhäuser, aber ambulante Versorgungsstrukturen sind kaum vorhanden. Die Menschen haben zudem oft nicht das Geld, einen Arzt aufzusuchen und die Medikamente dann in einer Apotheke zu kaufen. Das habe ich immer wieder bei meiner allgemeinärztlichen Sprechstunde in Mosul berichtet bekommen.
heute.de: Könnten die Behörden vor Ort die Versorgung auf absehbare Zeit überhaupt alleine stemmen, oder braucht es internationale Unterstützung?Trabert: Die ganz normale ärztliche Sprechstundenversorgung liegt ja schon am Boden. In Syrien sind nach wissenschaftlichen Expertisen schätzungsweise 200.000 Menschen verstorben, weil es keine geregelte ärztliche Versorgung gibt. Zudem fehlen Medikamente, etwa Insulin für Diabetiker. Es fehlt auch an Behandlungs- und Untersuchungsgeräten wie Dialysegeräten für Nierenkranke, Ultraschall und Röntgen. Aber auch das Beispiel mit dem tschetschenischen Mädchen zeigt, dass es internationale Hilfe und Intervention unbedingt braucht.