Das Fasten ist ein Ritual der geistigen Reinigung, die der Schöpfer den Menschen als Empfehlung bot und nicht wie von vielen Muslimen und Nichtmuslimen angenommen als Pflicht. Denn dies würde der Gesamtheit der Offenbarung widersprechen. Der Vers 256 in Sure 2 lautet: „Es gibt keinen Zwang in der Religion. Der richtige Weg ist nun klar erkennbar geworden vom unrichtigen. Wer also die Taghut (falsche Gottheiten und Mächte des Bösen, die Modelle von Glauben und Herrschaft etablierten, welche Gott Hohn sprachen) ablehnt und an Gott (als den einzigen Gott, Herrn und der Anbetung Würdigen) glaubt, der hat gewiss den sichersten, unzerbrechlichsten Halt ergriffen; und Gott ist hörend, allwissend.“
Auch im Evangelium ist diese Empfehlung verzeichnet. Darin heißt es: „Und da er (Jesus (a.)) vierzig Tage und Nächte gefastet hatte, hungerte ihn.“ (Matthäus, 4:2)
Das arabische Wort für Fasten ist saum und bedeutet: sich von etwas zurückhalten, sich zügeln, enthalten.
Wer fastet, bekommt den Genuss der geistigen, moralischen und physischen Frucht des Ramadans. Denn damit gewinnt man einen Abstand zum täglichen Rummel, Besinnlichkeit, Selbstkontrolle, Mitgefühl mit hungernden Armen sowie Verminderung von Blutfetten und Übergewicht. Dazu gehört auch die Freude, das Fasten täglich im Freundeskreis brechen zu können, beim Iftar. Dies schafft ein Zusammengehörigkeitsgefühl wie sonst nur die gemeinsame Pilgerfahrt in Mekka.
Säkulare Menschen fragen: „Wie kann Gott uns Mund, Zähne, Speiseröhre und Magen erschaffen, damit wir damit essen, und uns dann befehlen zu fasten. Wie kann er die Schönheit und die Begierde erschaffen und dann befehlen, die Blicke zu senken und schamhaft zu sein?!“
Die Antwort ist: Gott gibt uns das Pferd, damit wir es reiten, und nicht, damit es uns reitet; damit wir es zügeln und beherrschen, und nicht, damit es uns leitet und beherrscht. Unser Körper ist das Pferd, das für uns geschaffen wurde, damit wir es reiten, beherrschen, führen und zügeln, um ihn für unsere Absichten zu verwenden und nicht umgekehrt, dass er uns für seine Absichten benutzt und für seine Begierden leitet.
Von daher ist die Kontrolle über die Begierde, die Beherrschung der Wünsche und die Zügelung der Hände, der Zunge, der Lende und des Magens eine wichtige Aufgabe für den Menschen. Wir sind erst in dem Augenblick Mensch, indem wir gegen das, was wir lieben, Widerstand leisten, und was uns verhasst ist, aushalten. Wenn aber unser ganzer Eifer dem Stillen unseres Hungers und unserer Begierden gilt, so sind wir nicht mehr als ein Tier. Ein Bündel Stroh bewegt uns und ein Hieb hält uns zurück. Dazu hat uns der Schöpfer nicht erschaffen.
Der Koran bringt das Gebot zum Fasten in Zusammenhang mit der Gottesfurcht: „Ihr Gläubigen! Euch wurde das Fasten vorgeschrieben, wie es den Menschen vor euch vorgeschrieben war, damit ihr gottesfürchtig werdet.“ (2:183) Man fragt sich, wieso das Unterdrücken einiger körperlicher Bedürfnisse zur Gottesfurcht führen soll? Der Prophet Muhammad (s.) sagte: „Gottesfurcht ist hier“, und zeigte dabei auf sein Herz. Das Herz ist der Motor des Menschen. „Es sind nicht die Augen, die blind sind, sondern die Herzen.“ (22:46)
Gott erschuf den Trieb, um ihn zu überwältigen und einem höheren Trieb zu begegnen. Wir beherrschen den tierischen Drang des körperlichen Triebes und bewältigen ihn, damit das Auge sich mit dem Genuss, die Schönheit anzublicken, begnügt. Dann bewältigen wir diese zweite Begierde, um die Wollust des Verstandes an Kultur, Wissenschaft und Weisheit zu genießen. Dann wiederum steigen wir eine Stufe höher, um der Wahrheit zu begegnen und sie anzustreben und ihretwillen zu sterben.
Das sind die Stufen der Sehnsucht, deren niederste Stufe die Sehnsucht des Körpers ist, und dessen höchste Stufe die Sehnsucht zur Wahrheit und zum Ideal. Und im Höhepunkt steht die höchste Sehnsucht nach dem Herrn aller Vollkommenheit, dem Wahrhaftigen – gepriesen und erhaben sei er.
In einer Hadith Qudsi (heilige Hadith) sagt er: „O du Sohn Adams, ich erschuf dich für mich und schuf die Dinge für dich. So beschäftige dich nicht mit dem, was für dich ist, sondern damit, wofür du bist.“
Deswegen schuf der Schöpfer für uns die Natur mit ihren Gesetzen, Quellen und Schätzen. Er erschuf sie ihrem Wesen nach uns untergeben und uns dienend. Wir haben nicht viel Kraft aufgebracht, damit das Kamel unsere Last trägt, damit der Hund unser Haus bewacht oder damit das Vieh uns mit seinem Fell, Fleisch und Leder von Nutzen ist. Es wurde so untergeben und gehorchend erschaffen. Vielmehr war die Aufgabe, für die uns Gott schuf, und die Pflicht, die er uns erteilte, diese Tiere zu reiten und nach einem Ziel auszuwandern: zu Allah, zu ihm allein in Seiner Vollkommenheit.
„O du Mensch, du mühst dich wahrlich bis zum Äußersten, bis du zu deinem Herrn zurückkehrst; und du wirst Ihm mit Sicherheit begegnen.“ (Sure 84, Vers 6)
„Und ich habe die Dschinn und die Menschen zu keinem anderen Zweck erschaffen, als dass sie mir dienen.“ (Sure 51, Vers 56)
Das Fasten ist die erste Übung auf dieser Reise. Es ist wie das Training des Reiters, der sein Pferd zügelt und es beherrscht, indem er Hunger und Mühen überwindet. Es ist die Lektion der Disziplin, der Sittsamkeit und des Gehorsams des Körpers zum Geist.
Dem Schöpfer geht es nicht darum, dass wir von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang einfach nichts essen und trinken und uns dem Geschlechtsverkehr mit dem Ehepartner enthalten. Es geht darum, sich mit seinem Inneren auseinanderzusetzen sowie seine Beziehung zu Gott, zu dessen Schöpfung und zu sich selbst kritisch zu reflektieren. Ziel des Fastens ist nicht nur die Distanzierung von körperlichen Bedürfnissen, primäres Ziel ist das Fasten des Herzens. Wenn das Herz wahrlich fastet, werden die körperlichen Bedürfnisse automatisch gezügelt.
Der Prophet Muhammad (s.) sagte: „Wenn der fastende Lügen, unaufrichtiges oder unverantwortliches Handeln nicht unterlässt, braucht Gott nicht von ihm, dass er auf sein Essen und Trinken verzichtet.“
Wer das Fasten auf eine körperliche Enthaltung reduziert, ist wie derjenige, der das rituelle Gebet auf eine körperliche Betätigung reduziert. Ebenso fastet auch die Zunge. Üble Nachrede, Lästern, Beschimpfen, Beleidigen und jede Form der schlechten Rede kann man im Fastenmonat Ramadan wegtrainieren.
Von Nichtmuslimen hört man immer wieder die Frage, wie es die Muslime den ganzen Tag ohne Essen und Trinken aushalten. Wenn man das Fasten so versteht, wie es gedacht ist, „damit ihr gottesfürchtig werdet“ (2:183), stellt sich eher die Frage, wie man es schaffen soll, die mutige Reise in die Tiefen des eigenen Inneren anzutreten und dabei offen und ehrlich zu sich selbst zu sein. Das ist, was der Prophet Muhammad (s.) mit dem großen, also mit dem eigentlichen Dschihad beschrieben hat. Primär liegt darin der Sinn und Zweck des Fastens, und nicht in der körperlichen Anstrengung. Dass man lernt zu verzichten, Hunger und Durst auszuhalten, bringt den Menschen auf den Boden, bricht seinen Stolz und stärkt seinen Willen. So kann der Mensch Kräfte in sich entdecken, die er bis dahin nicht gekannt oder erkannt hat.
Der Ramadan war schon immer ein Monat des großen Dschihads. Das Fasten ist nicht Nichtstuerei, den ganzen Tag zu schlafen und die ganze Nacht vor dem Fernseher wach zu sein. Es ist nicht Aggressivität, Verärgerung und Stress im Umgang mit den Menschen. Allah der Schöpfer kann diese Art von Fasten entbehren. Er weist es vom Fastenden zurück und nimmt es nicht an. Der Fastende erhält davon nichts außer Hunger und Durst.