Nicht allein mit einem Körper und Gliedmaßen wird der Mensch geboren. Mit ihm kommt auch eine Frage. Und genauso wie sein Körper sich entwickelt und wächst, wächst auch der Drang, diese Frage zu beantworten: Was ist der Sinn des Lebens?
Die Frage nach dem Sinn im Leben stellt sich jeder Mensch, unabhängig von seiner Glaubensausrichtung. Die Glaubensausrichtungen unterscheiden sich nicht in den Fragen, sondern in ihren Antworten. Die entscheidendste Frage im Leben eines Menschen ist die Frage nach dem Sinn des Lebens. Niemand kann sich dieser Frage entziehen. So wie der Mensch die Frage nach dem Sinn beantwortet, so lebt er auch. Anders gesagt: Das Leben des Menschen ist die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens.
Muslime glauben daran, dass der Schöpfer des Lebens auch einen Sinn dafür geschaffen hat. Die Propheten, Imame und Märtyrer wurden eigens von Gott auserwählt, um den Menschen diesen Sinn im Leben vorzuleben. Muslime orientieren sich am Lebenssinn, den Gott ihnen durch seine Auserwählten geschickt hat. Die Liebe und Sympathie gegenüber den auserwählten Vorbildern ist die sehnsüchtige Suche nach dem Lebenssinn dieser edlen Leute. Wenn es im Heiligen Quran „Glaubt an das, was Gott herabgesandt hat“ (Sure 2:91) heißt, dann ist auch gemeint, an den Sinn des Lebens zu glauben, den Gott definierte. Unglaube bedeutet, nicht an den Sinn im Leben zu glauben oder gar das Leben als sinnlos zu verstehen. Im Heiligen Quran heißt es: „Und Wir haben die Himmel und die Erde und was dazwischen ist nicht zum Spiel erschaffen“ (Sure 21: 16). Das Leben hat laut dem Heiligen Quran einen Sinn.
Liebe Gottes als Sinn des Lebens
Nach islamischer Überzeugung besteht der Sinn des Lebens darin, die Liebe Gottes zu empfangen. Gott erschuf den Menschen, um ihm alles zu geben. Allerdings zwingt Gott dem Menschen seine Liebe nicht auf. In dem Maße, wie der Mensch nach der Liebe Gottes fleht, erhält er sie auch. Ein Muslim ist also jemand, der sich Gott hingibt und Gott darum anfleht, ihm seine Liebe zukommen zu lassen. In der Anrufung der Liebenden fleht Imam Zain-ul-Abidin (a.) Gott an: „... ich bitte dich, gewähre mir die Liebe zu dir, die Liebe zu jedem, der dich liebt und die Liebe zu jeder Tat, die mich in deine Nähe bringt.“
Für die Liebe Gottes ist der Mensch bereit, alles zu tun, was Gott von ihm verlangt. Der Mensch ist bereit, ein Diener Gottes zu werden. Dieser Gottesdienst ist die Sehnsucht nach der Liebe Gottes. So besteht der Sinn des Lebens für den Menschen darin, Gottes Liebe sehnsüchtig zu erflehen. Da der Mensch etwas von Gott möchte, Gottes Liebe, wird er bereit, Gottes Diener zu werden. Deswegen heißt es im Heiligen Quran auch: „Und Ich habe die Dschinn und die Menschen nur dazu erschaffen, damit sie Mir dienen“ (Sure 51: 56). Der Dienst an Gott ist auch der Dienst an der Schöpfung Gottes.
Der Sinn des Lebens besteht darin, dem Leben einen Sinn zu geben. Ein Sinn im Leben, welcher mit dem Ableben des Menschen aufhört sinnig zu sein, ist kein wahrer Sinn. Wenn ein Lebenssinn nur dazu dient, dem Menschen zu seinen Lebzeiten materialistisch zu dienen, endet dieser Lebenssinn mit dem Lebensende. Vielmehr muss der Mensch einen Sinn im Leben haben, der auch nach seinem Leben Sinn ergibt. Einen Sinn im Leben, für den es sich zu Leben lohnt und unerreichbar bleibt. Einen Sinn im Leben, das als Ideal gesehen und angestrebt wird. In seinem Buch Die vier Gefängnisse des Menschen schreibt Ali Schariati: „Der Mensch schätzt die materialistischen Ideale seines täglichen Lebens solange hoch, wie er sie nicht erreicht hat. Erreicht er sie, so kommen ihm viele sinnlos vor. Daher müssen die Ideale des Menschen so hochgesteckt sein, dass er nirgends stehen bleibt, andernfalls führt dies zur Sinnlosigkeit.“ Frei nach dem Spruch „Ideale sind ein Leuchtturm, kein Hafen“. Hat ein Mensch keine Ideale, die er anstrebt, kann er keinen Sinn im Leben empfinden. Das Anstreben der Ideale verleiht dem Leben einen Sinn.
Schwache Menschen kämpfen nur dann für ihre Ideale, wenn eine Aussicht auf weltlichen Erfolg besteht. Für seine Ideale zu kämpfen, obwohl keine Aussicht auf weltlichen Erfolg besteht – nicht mal ansatzweise –, bedarf einen starken Glauben daran, dass die Ideale, für die man kämpft, der eigentliche Erfolg sind. Es bedarf den Glauben, dass die Ideale Sinn ergeben, und der Bereitschaft sich für diese Ideale aufzugeben. Der Sinn des Lebens besteht darin, dem Leben einen Sinn zu geben, um dann seinem Leben diesem Sinn zu geben.
Liebe als das Wohl des anderen
Ein Leben, das nur auf das eigene Wohl aus ist, ist ein Leben ohne Sinn. Ein Leben ohne Sinn, ist ein Leben ohne Liebe. Im Islam besteht der Sinn des Lebens genau in dieser Liebe. Die Liebe, die den Menschen dazu bringt, zum Wohle anderer und zur Verwirklichung höherer Ideale gegen seine eigenen Lebensinteressen und unter Aufopferung seiner Existenz zu handeln. Diese Liebe bedeutet die Bereitschaft, alles zu geben und nichts zu erwarten. Das ist eine unermessliche innere Bereitschaft zu vergehen, damit andere bestehen können.
Ein Mensch, der diese Liebe von Gott erfleht, wählt das Wohl des Nächsten anstelle des eigenen, auch wenn es um Leben und Tod geht. Er hat das Wohl anderer zum Ziel, auch wenn er über das Ende seines eigenen Lebens, seines Glückes, seines Wohlstandes entscheiden muss. Eine Liebe, die den Menschen scheinbar jenseits aller Vernunft und Logik dazu bringt, sein Selbst zu leugnen, gegen das Ich zu rebellieren und das eigene Leben zum Wohle des anderen aufs Spiel zu setzen. Dieser Liebe wegen wurde der Mensch erschaffen. Um diese Liebe fleht ein Mensch, der einen Sinn im Leben sucht. Denn allein diese Liebe zu spüren, ist der Sinn, weshalb Gott uns schuf. Der Sinn des Lebens ist, Gott so stark zu lieben, dass wir bereit sind alles zu geben.
Wer nichts hat, was er liebt und wofür er bereit wäre alles zu geben, wenn es sein muss auch seine gesamte Existenz, hat keinen Sinn im Leben. Wer wissen will, wofür er lebt, sollte sich fragen, wofür er bereit wäre zu sterben. Denn nur ein Sinn im Leben, für den es sich lohnt zu sterben, macht Sinn dafür zu Leben.
Es war klar, dass jeder, der sich Imam Hussein (a.) anschloss, den 10. Muharram (61 n. H.) nicht überleben würde. Seine Anhänger hatten keine Angst vor dem Tod. Sie wussten genau; sie werden einer nach dem anderen ihr Leben opfern müssen. Dennoch fürchteten sie sich nicht vor dem Sterben. Schlimmer als der Tod war für sie ein Zustand, in dem sie nichts so sehr lieben, dass sie bereit wären dafür zu sterben.
Mit der Geburt beginnt auch die Frage nach dem Sinn des Lebens. Beantwortet wird sie damit, wofür es Sinn macht zu sterben. Das, was Sinn macht, dass man dafür stirbt, macht auch Sinn, dass man dafür lebt. Imam Hussein (a.) drückt es wie folgt aus: „Der Sinn des Lebens ist die Überzeugung und der Kampf um seine Realisierung.“