Von: Dr. Yavuz Özoguz , Gestern 10:43
In Artikel 1 der Grundrechte des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Und in Artikel 6 wird ein Teil dieser Würde im Besonderen beschrieben: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.“ So weit die Theorie.
In der Praxis sieht es allerdings etwas anders aus. Die Scheidungsrate in Deutschland ist bis ins 21. Jh. Ständig angewachsen und hält sich seither auf sehr hohem Niveau. Im Jahr 2015 fiel eine Ehescheidung auf drei Eheschließungen. Die durchschnittliche „Haltbarkeit“ einer Ehe wird immer kürzer und das durchschnittliche Erst-heirats-Alter von Männern (33,8 Jahre) und Frauen (31,2 Jahre) wird immer höher [1]. Nur noch jede zweite Ehe hält, bis das der Tod die Partner scheidet. Die Zahl der Eheschließungen hat sich in Deutschland in den letzten fünfzig Jahren halbiert [2], und das obwohl alle Ehen mitgezählt werden, bei denen die Partner ein zweites Mal heiraten! Zwar sind immer noch rund 38 Millionen Menschen im Land verheiratet aber die Mehrheit der Ehepaare hat keine Kinder. Seit zwanzig Jahren nimmt die Anzahl der Single-Haushalte in Deutschland zu. Daher schrieb eine Zeitung: „Um die Ehe ist es in Deutschland nicht gut bestellt“ [3].
Ganz offensichtlich sind die Rahmenbedingungen des Staates derart, dass die Ehe eben nicht mehr unter einem besonderen Schutz steht; das Grundgesetzt wird statistisch belegt mit Füßen getreten, aber kaum jemanden stört es. Oder doch? Geht man in die Schulklassen und unterhält sich mit jungen Menschen, die ihre Ideale noch nicht in den Rachen des Seelen verschlingenden Materialismus geschmissen und Idealismus im Sog des Raubtierkapitalismus aufgegeben haben, dann träumen die allermeisten Jugendlichen von der ersten und einzigen großen Liebe, die ewig hält. Allerdings gibt es kaum noch jemanden, der ihnen erklärt, dass solch ein Ideal nur in einem bestimmten Rahmen funktionieren kann. Genau so wenig, wie ein Rosenbeet auf vertrocknetem Boden gedeihen kann, genau so wenig kann die Ehe zu immer größerem Glück der Partner führen, wenn sie nicht besonders geschützt wird.
Ehe und Familie können ohne Erotik und einer erfüllten Sexualität nur schwerlich geschützt werden. Erotik und ein erfülltes Sexualleben können im Rahmen einer langwierigen Partnerschaft mit älter werdenden Partnern nur dann wachsen und immer schöner werden, wenn sich beide Partner ihrer Rolle bewusst sind und ihre Dankbarkeit ausleben. Im Islam wird die eheliche Sexualität idealerweise wie ein Gebet zelebriert und das Gebet wird im Laufe der Jahre immer intensiver. In der ehelichen Sexualität leben die Ehepartner ihre Liebe aus, die sie zur Urquelle aller Liebe führt. Man muss allerdings kein Muslim sein, um derartige Aspekte zu verstehen. So hat z.B. der deutsche Psychoanalytiker, Philosoph und Sozialpsychologe Erich Fromm bereits im Jahr 1956 in seinem berühmten Werk „Die Kunst des Liebens“ geschrieben: „Erotische Liebe ist zwar exklusiv, aber sie liebt im anderen die ganze Menschheit, alles Lebendige. Sie ist exklusiv nur in dem Sinn, dass ich mich mit ganzer Intensität eben nur mit einem einzigen Menschen vereinigen kann. Die Liebe sollte im Wesentlichen ein Akt des Willens, des Entschlusses sein, mein Leben völlig an das eines anderen Menschen zu binden. Jemanden zu lieben, ist nicht nur ein starkes Gefühl, es ist auch eine Entscheidung, ein Urteil, ein Versprechen. Wäre die Liebe nur ein Gefühl, so könnte sie nicht die Grundlage für das Versprechen sein, sich für immer zu lieben. Ein Gefühl kommt und kann auch wieder verschwinden… Die als Gottesliebe bezeichnete religiöse Form der Liebe ist psychologisch gesehen nichts anderes. Sie entspringt dem Bedürfnis, das Getrenntsein zu überwinden und Einheit zu erlangen.“ [4]
Hier stoßen westliche Gesellschaften auf ein Hindernis, das sie bisher nicht überwinden können. Einerseits wünschen sie, dass alle Menschen in der Gesellschaft gleich behandelt werden, als Mensch und eben nicht als Mann oder Frau. Andererseits wünscht jede Frau ihre Weiblichkeit und jeder Mann seine Männlichkeit ausleben zu können. Das so genannte Gender-Mainstreaming soll dabei Strategien zur Förderung der Gleichstellung der Geschlechter erarbeiten, was allerdings eher zu skurrilen Ergebnissen, wie die so genannte Unisex-Toilette geführt hat [5], als zu ernsthaften Förderungen der Gleichstellung. Dabei haben (fast) alle Forscher inzwischen erkannt, dass es keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit gibt [6].
Mann und Frau sind unterschiedlich, körperlich wie seelisch, hormonell wie gedanklich. Für eine echte Gleichstellung, ohne die jeweilige geschlechtliche Identität zu verlieren, bedarf es unterschiedlicher Wahrnehmungsräume. Der Islam unterteilt daher das Leben in drei wesentliche Wahrnehmungs- bzw. Schutzräume: das exklusive Ehepaar, die Familie, die Gesellschaft. Artikel 6 des Grundgesetzes findet in den islamischen Idealen ihren Ursprung. Das Ehepaar genießt einander in jeder Hinsicht, es gibt Blickexklusivität, Berührungsexklusivität und vieles andere mehr. In dieser Zweisamkeit darf sie voll und ganz weiblich und er voll und ganz männlich sein! Die engere Familie genießt eine eingeschränkte Blickexklusivität und Berührungsexklusivität. Damit sind alle Menschen gemeint, die man theoretisch nicht heiraten kann wie z.B. Tochter/Sohn, Bruder/Schwester usw.. Hier leben Mann und Frau die Weiblichkeit und Männlichkeit vor, um die nächste Generation zu erziehen, ohne die Exklusivität der Zweisamkeit in allen Details offen zu legen. Der dritte Raum ist die Gesellschaft. Hier treten Mann und Frau nicht mehr mit ihrem Geschlecht auf, sondern als gleichberechtigter Mensch ohne Geschlechtlichkeit. Beide verhüllen ihre Geschlechtlichkeit und die Schönheit, die daran gekoppelt ist. Da gemäß Vorstellung des Islam die Frau bezüglich göttlich gespiegelter Schönheit die intensivere körperliche Ausschmückung erhalten hat, ist Ihre Verhüllung in der Gesellschaft deutlicher wahrnehmbar. Einige materielle Ausschmückungsaspekte wie Gold und Seide sind ihr vorbehalten. Ein Mann darf sie nicht nutzen. In diesem Drei-Raum-Schutzfeld entwickeln sich beide Geschlechter zu immer wertvolleren Mitgliedern der Gesellschaft und das Ehepaar kann dabei auch ihre Liebe zueinander immer weiter intensivieren.
Nur ein klitzekleiner Aspekt davon ist die Berührungsexklusivität. Das Berühren der Hand des anderen Geschlechts ist – zum Schutz der Ehe und Familie – nur in den ersten beiden Schutzräumen erlaubt. In der Gesellschaft hingegen verhalten sich die Geschlechter berührungslos zueinander.
In der heutigen deutschen Gesellschaft ist das Handgeben auch gegenüber fremden Frauen etwas völlig Normales. Die Ablehnung des Handschlages wird hingegen als Beleidigung angesehen. Aber ist das immer so und war es immer so? Nur Menschen, die mit Scheuklappen durch die Welt wandeln und weder die eigene Geschichte kennen noch andere Umstände, können so denken. Orthodoxe jüdische Rabbiner haben schon immer einer fremden Frau den Handschlag verweigert. Im alten Knigge steht unmissverständlich, dass ein Mann niemals einer fremden Frau zuerst die Hand reicht. Tut sie es nicht, bleibt es ohne Handschlag. Doch wer weiß heute noch was Knigge ist? Die englische Königin reicht noch heute Fremden die Hand nur mit Handschuh, was bei anderen als unhöflich gilt. Jugendliche „Gangs“ begrüßen einander mit anderen Formen usw.. In manchen Krankenhäusern steht an der Tür ein großes Schild, dass man im Krankenhaus aus hygienischen Gründen keine Hände reiche. In vielen Kulturen der Welt wird kaum ein Handschlag praktiziert, wie z.B. in Indien. Wer die Welt und seine Umgebung studiert, wird feststellen, dass es Handschlagsverweigerung aus religiösen, kulturellen, hygienischen und vielen anderen Gründen geben kann. Und nie ist es in den genannten Fällen als Beleidigung gedacht. Aber im Fall eines Muslims, der gegenüber seiner Lehrerein den Handschlag verweigert hat, kam es zum bundesweit Skandal [7]. Dabei gab es bereits vorher Hunderte von Muslimas und Muslimen, die sich in der Schule ähnlich verhalten haben, ohne dass es einen Aufstand gab. Ich erinnere mich an die Preisvergabe bei der Abi-Feierlichkeit meiner Tochter vor 6 Jahren, die als Preisträgerin normalerweise einen Handschlag vom Direktor erhalten hätte. Da der Direktor die Situation kannte, reichte er nicht die Hand und hunderte Anwesende waren nicht gestört. Nur darüber hat keine Zeitung berichtet!
Doch nehmen wir einmal an, das Verhalten der Jugendlichen wäre nicht durch den Islam geprägt, und könnte nicht zu sehr konstruktiven Elementen der Gesellschaft beitragen. Nehmen wir einmal an es wäre eine Art jugendliche Marotte. Würde deshalb das Abendland untergehen? Und würde es die „Integration“ der Jugendlichen behindern? Ähnliches hat man einst zu Piercings gesagt. Heute stört es kaum noch jemanden. Ähnliches hat man einst zu Tätowierungen gesagt. Heute ist es vielen schon peinlich, wenn sie keine Tätowierung haben. Ähnliches hat man zu langen Haaren bei Jungs in den 1960ern gesagt. Inzwischen haben sie wieder kurze Haare.
Was also ist das „Besondere“ daran, wenn Muslime und Muslimas bestimmte Verhaltensformen praktizieren, die niemanden bedrohen, niemanden stören dürften und niemanden schädigen, dass solch ein Skandal daraus gemacht wird? Der Grund liegt darin, dass der Islam der neue Sündenbock eines untergehenden unmenschlichen Systems ist. Genau wie einstmals das untergehende Rom die Christen zu Sündenböcken für jede Schandtat des Systems auserkoren hatte, hat der untergehende westliche Kapitalismus den Islam zum Sündenbock abgestempelt. Rom ist heute die Hauptstadt der Katholiken. So viel zum Geschichtsverständnis.
Aber noch einmal zurück zum Handgeben. Was soll das eigentlich? Ein Mann wird doch nicht gleich über die Frau herfallen, wenn er ihr die Hand gibt. Die unvorstellbaren Vergewaltigungszahlen in Deutschland haben doch nichts damit zu tun, dass man sich gegenseitig die Hand gibt. Könnten die Muslime hier der Mehrheitsgesellschaft nicht etwas entgegen kommen? Die Antwort darauf ist: Viele Muslime tun es doch, aber muss man es deshalb von allen verlangen? Und so zu tun, als wenn Berührung etwas völlig Harmloses ist, ist eine Verachtung eines wunderbaren Gefühls. Klaus Lage singt in einem der berühmtesten deutschen Schlager: „Tausendmal berührt, tausendmal ist nix passiert, tausend und eine Nacht, und es hat Zoom gemacht.“ Der Refrain des Liedes drückt etwas aus, was jeder im Land weiß. Eine vertraute Nähe kann zu mehr führen. In dem Lied heißt es auch „Wir waren nur Freunde und wollen's auch bleiben, ich dacht' nicht im Traum, dass was passieren kann.“ Muslime wissen, dass etwas „passieren“ kann. Sei es nur irgendein Gefühl, sei es nur bei jedem tausendsten Mal, wozu? Wozu soll die Berührungsexklusivität aufgegeben werden? Wozu soll die Gefühlsexklusivität Ehe und Familie gefährdet werden?
Deutsche Muslime und Muslimas tragen in unserer Heimat Deutschland eine sehr große Verantwortung, auch im Schutz des Grundgesetzes. Der Schutz des Ehe und Familie ist ein zu wertvolles Gut, als dass wir es den Politikern überlassen dürften. Muslime und Muslimas, welche die Berührungsexklusivität als integrierte Mitglieder der Gesellschaft vorleben, sollten dies nicht verschämt oder zurückhaltend tun, sondern in großer Dankbarkeit und voller Selbstbewusstsein und überzeugt wie überzeugend. Voraussetzung dafür ist, dass man erklären kann, was man tut. Und wiederum Voraussetzung dafür ist eine exzellente Kenntnis der deutsche Sprache (und kein Gossendeutsch oder türkisches Berlinerisch). Mit der Sprachkenntnis wird man integriert und nicht mit einem angedachten Berührungszwang. Lasst uns als Muslime zum Schutz des deutschen Grundsgesetzes die besten Ehen und Familien vorleben!
[1] https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/...59538ED9D3.cae3
[2] http://www.rp-online.de/politik/fakten-u...d-bid-1.2101559
[3] https://de.statista.com/themen/60/single/
[4] http://www.matthias-kaldenbach.de/dkdl.htm
[5] http://www.tagesspiegel.de/berlin/queers...r/12631908.html
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Gender-Mainstreaming
[7] http://www.spiegel.de/lebenundlernen/sch...-a-1102376.html