Ein lang gehegter Traum wurde dieses Jahr für meinen Mann und mich sowie für einige Gemeindemitglieder wahr: Allah gab uns die Gelegenheit, zum diesjährigen Arbain zu Imam Hussein (a.) nach Kerbala zu reisen. Wir wurden zwar von erfahrenen Pilgern gewarnt, unsere erste Reise in den Irak nicht zum Arbain zu unternehmen, weil es dann zu überfüllt sei, aber wir wollten unbedingt den Fußmarsch zwischen Nadschaf und Kerbala miterleben.
Wir kamen Mittwochabend, den 16. November am Flughafen in Bagdad an, fuhren dann mit dem Bus nach Nadschaf, wo wir den darauffolgenden Tag verbrachten, und dann starteten wir am Freitag vom Schrein Imam Alis (a.) den Fußmarsch.
Schon unterwegs bekamen wir die Freundlichkeit, Opferbereitschaft und Gastfreundschaft der irakischen Bevölkerung zu spüren. Die gesamte Strecke von 85 Kilometern war gesäumt von den Bildern der Märtyrer, die die Iraker im Kampf gegen den vom US-Imperialismus unterstützten ISIS geopfert haben. An praktisch jeder Ecke wurden wir von Irakern mit den Worten „Mabit, mabit, ahlan wa sahlan“ („Übernachtungsmöglichkeit, herzlich willkommen“) aufgefordert, die Nacht in ihrem Haus zu verbringen. Sie versuchten sogar, uns mit WLAN und einer warmen Dusche zu locken, aber unser Reiseleiter hatte Unterkünfte reserviert, in der Regel Husseiniyyas, und wir mussten bei der Gruppe bleiben. Die Iraker zeigten aufrichtige Trauer, als wir ablehnten. Wir haben zwar versucht, ihnen zu erklären, warum wir ihrer Einladung nicht folgen konnten, aber sie waren trotzdem betrübt.
Der Irak ist ein bitterarmes Land, vor allem die Region um Kerbala. Vor diesem Hintergrund kann man nur erahnen, was dieses Volk für eine logistische Meisterleistung zum Arbain erbringt. Eine Husseiniyya, in der wir eine Nacht verbrachten, diente zudem auch als Flüchtlingsheim für turkmenische Flüchtlinge aus dem Nordirak.
Den ganzen Weg lang waren Stände aufgebaut, wo uns morgens heißer Tee und frisches Brot angeboten wurden, gegen Mittag eine warme Mahlzeit. Wohlgemerkt alles unentgeltlich! Es waren auch überall Zelte als Rastplätze aufgebaut, jeweils für Männer und Frauen. Dort konnte man sich ausruhen, das Gebet verrichten oder sich sogar die Füße massieren lassen. Wir hatten ein wenig Süßigkeiten aus Deutschland mitgebracht, die wir dann an die Kinder verteilten, die sich auch am Dienst an den Pilgern rege beteiligten. Man konnte oft Kinder sehen, die sich mitten auf den Weg gekniet hatten, auf dem Kopf große runde Tabletts mit Datteln balancierend. Wenn die Datteln aufgegessen worden waren, liefen sie schnell zu irgendwelchen Ständen, wo die Mutter sie wieder auffüllte.
Die Freude, mit der sie sich bemühten, den Pilgern zu dienen, uns, die wir doch aus einem reichen Land gekommen waren, beschämte uns sehr. Überhaupt ist es augenfällig, wie die Kinder dort mit der Liebe zu Imam Hussein (a.) aufwachsen. Was lernen unsere Kinder hier in den Kindergärten und Schulen?
Ich erinnerte mich an Sayyida Zainab und an die verschleppten Frauen und Kinder sowie den schwer kranken Imam Zain-ul-Abidin (a.). Sie mussten viel weiter reisen und bekamen mitnichten so eine gute Verpflegung wie wir, und schon gar keine Fußmassage. Stattdessen Peitschenhiebe und Beschimpfungen. Tagsüber die heiße Sonne, nachts die durchdringende Kälte. Aschura trug sich ungefähr in der Jahreszeit zu, in der wir uns gerade in Kerbala aufhielten. Es ist eine Fehlvorstellung von uns, dass es ständig nur heiß war. Nachts wurde es sehr kalt. Die Härten, denen Imam Husseins (a.) Familie nach der Tragödie auf der langen Reise nach Damaskus ausgesetzt waren, müssen unvorstellbar gewesen sein. Die kleine Ruqayya, Imam Husseins (a.) Tochter, starb sogar an den Strapazen der Reise in Yazids Verlies in Damaskus.
Viele Menschen hatten auch ihre Häuser für die Pilger zur Verfügung gestellt, nicht nur auf dem Weg nach Kerbala, sondern auch in Kerbala selbst. Sonst wäre diese enorme Zahl von Besuchern kaum zu bewältigen gewesen. Abgesehen davon, dass es meistens arme Leute waren, die sich auf den Weg zu Imam Hussein (a.) machten, können sich viele auch kein Hotel leisten und konnten auch sonst keine Unterkunft mehr finden, also schliefen sie zwischen den beiden Grabmälern von Imam Hussein (a.) und Sayyid Abal Fadhl Abbas. Dieser Bereich wird „Beynulharamayn“ („zwischen den beiden heiligen Schreinen“) genannt. Die dort Schlafenden waren dick in Decken gewickelt, da es abends um diese Jahreszeit empfindlich kalt wird. Selbst im Schrein schliefen viele Leute.
Als wir am Sonntagabend nach drei Tagen Fußmarsch ziemlich erschöpft in Kerbala ankamen, trafen wir auf eine Gruppe irakischer Studenten, die sich zur Aufgabe gemacht hatten, Pilgern, die sich in der Stadt nicht auskannten, ihre Quartiere zu zeigen. Sie brachten uns erst zu einer Hauza (religiöse Schule), in der wir eigentlich übernachten sollten, aber die stellte sich als bereits überbelegt heraus. Dann brachten sie uns zu einem Privathaus, das dessen Besitzer ebenfalls für die Pilger geräumt hatte, möge Allah es ihm reichlich lohnen. Dort übernachteten wir.
Es war sehr voll, und die Dusche funktionierte am nächsten Tag nicht mehr. Die Tanks auf den Dächern waren einfach dieser Masse von Besuchern nicht gewachsen. Das rief bei einigen von uns etwas Unmut hervor. Aber Moment mal: Wohin waren wir denn gekommen, und wen wollten wir eigentlich besuchen? Wollten wir nicht zu Imam Hussein (a.) gehen und der Tragödie gedenken? Hatten wir denn vergessen, dass Imam Hussein, Sayyida Zainab und seine Kinder nicht einmal Wasser zum Trinken hatten? Trinkwasser hatten wir im Überfluss, alhamdulillah. Und wir beschwerten uns darüber, dass wir nicht duschen konnten, und einige hatten Probleme damit, dass es nur Plumpsklos gab. Was haben wir denn erwartet, einen Wellnessurlaub im Fünf-Sterne-Hotel? Das ist so eine Wallfahrt definitiv nicht, und das würde auch nicht zusammenpassen. Da wurde mir bewusst, wie verwöhnt und undankbar wir Europäer doch zuweilen sind. Wie können wir „Labbayka ya Hussein“ („hier sind wir, o Hussein“) rufen, aber gleichzeitig ärgerlich werden, wenn wir mal einen Tag kein Wasser zum Waschen haben. Wir blieben zwei Nächte dort, dann zogen wir um in ein Hotel, in dem es sogar warme Duschen gab – alhamdulillah.
Man hatte uns in Deutschland gesagt, nach Arbain würde die Gastfreundschaft und kostenlose Essensausgabe eingestellt werden, aber das war nicht der Fall. Es ging vielmehr unvermindert weiter.
Ein ganz besonderes Erlebnis wird uns allen für immer in Erinnerung bleiben: Wir wollten an einem Tag mit der gesamten Gruppe nach Samarra fahren, um Imam Askari (a.) und Imam Naqi (a.) zu besuchen, sowie den Keller, in dem Imam Mahdi (a.) zuletzt gesehen wurde. Einige Frauen hatten Sicherheitsbedenken, deshalb beschloss der Reiseleiter, nicht dorthin zu fahren. Wir wollten aber unbedingt nach Samarra, also mietete sich unsere Delmenhorster Kleingruppe einen Bus auf eigene Kosten, und einige Schwestern schlossen sich uns an. In Samarra war die Militärpräsenz überdeutlich, und es gab viele Checkpoints. Sogar Flugabwehrgeräte standen auf den Dächern. Die Soldaten gehörten meist zur irakischen Hisbullah oder Haschd Schabi (von General Sulaimani ausgebildete Eliteeinheit).
Zu allem Überfluss hatte auch noch einer unserer Mitreisenden seinen Pass im Hotel vergessen, und wir waren schon etwas nervös, aber alles ging gut. Ich hatte keine Sekunde Angst, fühlte mich im Gegenteil sehr beschützt. Wir hatten unsere Deutschlandflagge mit dem Bild von Imam Chamenei dabei, und die Milizionäre waren begeistert, deutsche Muslime zu sehen, die auch noch Anhänger von Imam Chamenei waren. Wir machten dann unsere Ziyaras, aber der junge Busfahrer drängte zum Aufbruch vor dem Anbruch der Dunkelheit, weil es im Dunkeln unsicher sei. Wir hatten aber alle Hunger, weil wir seit dem Frühstück noch nichts gegessen hatten. Wir baten also darum, irgendwo anzuhalten, um etwas zu essen. Aber wir hatten nicht mit der Gastfreundschaft Imam Mahdis (a.) gerechnet. Es war eigentlich recht ruhig in Samarra, es gab kein buntes Treiben wie in Kerbala. Aber einen Stand gab es doch, und dort wurde etwas Reis mit Linsen ausgegeben, den wir dankbar annahmen. Doch war das nur eine Vorspeise, wie sich herausstellen sollte.
Unterwegs wollte der Busfahrer uns unbedingt zu seinen Eltern einladen, die in der Umgebung von Hilla wohnten. Wir lehnten erst ab, wir sagten, wir seien müde, aber in Wirklichkeit wollten wir die Familie nicht belasten, in dem wir mit fünfzehn Personen dort einfielen. Aber er bestand darauf, es war nicht nur bloße Höflichkeit. Er sagte, er hätte schon Gäste aus Bagdad gehabt, das sei schon eine Sensation gewesen, aber noch nie welche aus Deutschland, und bat darum, ihm diese Ehre zu erweisen. Da konnten wir nicht anders, als seine Einladung anzunehmen. Unterwegs kaufte er für uns noch Obst. Er bog in einen kleinen sandigen Weg mitten in die Wüste ab, der rechts und links von hohem Schilfrohr umgeben war. Nach einer Weile hielt er vor einem kleinen Bauernhaus, vor dem sich seine Familie schon versammelt hatte und uns erwartete. Von seiner Mutter wurden wir Frauen dann in ein Wohnzimmer geführt, in dem sich keine Möbel befanden, nur ein Teppich und ein Fernseher. Die Männer betraten einen anderen Raum.
Wir unterhielten uns ein wenig mit den Frauen, zum Glück konnten einige von uns Arabisch. Sie lebten vorwiegend vom Gemüseanbau. In der Mitte des Zimmers stand ein kleiner Petroleumofen, der eine wohlige Wärme verbreitete. In den anderen Zimmern muss es aber kalt gewesen sein, denn die Kinder, die natürlich neugierig waren, kamen angelaufen und waren dick eingepackt. Es ist in Teilen des Orients durchaus üblich, dass nur ein Zimmer geheizt wird, weil es zu teuer wäre, das gesamte Haus zu heizen.
Das Leben dieser Bauernfamilie ist also alles andere als komfortabel, sondern sehr bescheiden, aber sie strahlten so eine Ruhe und Zufriedenheit aus, man merkte, dass sie mit sich und ihrem Leben im Reinen waren. Dann tischte die Mutter des Busfahrers das Beste auf, was sie hatten. Brot, Suppe, Tomatensoße sowie Kräuter und Tomaten aus eigenem Anbau, zum Nachtisch gab es Tee und Datteln. Kein Essen im Irak hatte mir besser geschmeckt.
So ist es also, wenn man Imam Mahdi (a.) besucht: Wir hatten Hunger, und bekamen eine kleine Vorspeise, um dann bei einer Bauernfamilie zu essen. Allah erfüllte unseren Wunsch, in dem er dazu eine Familie in bescheidenen Verhältnissen einsetzte, nicht irgendwelche reichen Leute.
Insgesamt ist es eine Riesenleistung, die die arme Bevölkerung Südiraks in der Zeit von Arbain dort vollbringt. Die Statistiken über die Besucherzahlen gehen auseinander, manche sprechen von 23 Millionen, andere sogar von noch mehr. Aber selbst wenn es „nur“ 15 Millionen gewesen wären – man stelle sich vor, 15 Millionen würden nach Bremen kommen. Kerbala hat laut Wikipedia 434.457 Einwohner (Stand 1. Januar 2005).
Ich wünsche jedem, diese wunderbare Atmosphäre erleben und Imam Husseins (a.) Gastfreundschaft und die seiner Anhänger genießen zu dürfen.