AhlolBayt News Agency (ABNA)

source : offenkudiges.de
Mittwoch

19 Oktober 2016

06:19:30
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Warum wir uns endlich integrieren müssen

Muslime müssen sich integrieren. Ein wichtiger und absolut berechtigter Satz, finden viele Nichtmuslime. Ein schrecklicher Satz, finden viele Muslime.

Muslime müssen sich integrieren. Ein wichtiger und absolut berechtigter Satz, finden viele Nichtmuslime. Ein schrecklicher Satz, finden viele Muslime. Warum eigentlich? Darauf gibt es eine Reihe von Antworten, aber auch einige Folgefragen, die wir uns als Muslime stellen müssen. Holen wir ein wenig aus und sehen wir, was der Großteil der Muslime zum Thema denkt und sagt.

Eine Studie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster mit dem Titel „Integration und Religion aus der Sicht von Türkeistämmigen in Deutschland“ behandelt das Thema Integration mal anders: Sie untersucht den Integrationsprozess dieser Bevölkerungsgruppe aus ihrer eigener Perspektive heraus. Auftraggeber der Studie war das Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Uni Münster. Entsprechend ist ein Schwerpunkt der Studie, neben dem Thema Integration, auch die Religion.

Zwar sind in der Studie nur türkischstämmige Einwohner und nicht alle Muslime in Deutschland Gegenstand der Untersuchung. Das macht die Studienergebnisse in vielen, aber nicht in allen Punkten auf die Gesamtheit der Muslime in Deutschland übertragbar. Aber die Forscher machen hier etwas anders, als man es von anderen Studien, Artikeln und Kommentaren zum Thema Integration gewohnt ist. Sie nehmen die Sicht derer ein, über die im immer wieder aufflammenden Diskurs über Integration gesprochen wird. Ein Blick auf die Ergebnisse dieses Perspektivenwechsels liefert Antworten auf die Frage, warum vielen Muslimen die Aufforderung zur Integration so schwer im Magen liegt.

Neun von zehn Befragten beantworten die Frage nach dem allgemeinen Wohlbefinden in Deutschland positiv. Fast ebenso viele fühlen sich mit Deutschland eng oder sehr eng verbunden. Fragt man sie, ob sie glauben ihren gerechten Anteil am Leben in Deutschland zu erhalten, schneiden sie kaum schlechter ab als der westdeutsche Durchschnitt – aber deutlich besser als der ostdeutsche.

Dabei differenzierten die Forscher in der Studie zwischen hier Geborenen aus der zweiten bzw. dritten Generation auf der einen Seite sowie den nach Deutschland zugewanderten, also der ersten Generation, auf der anderen. Das weckt insbesondere bei zwei Punkten das Interesse: In den Ergebnissen sind, kaum überraschend, Menschen der zweiten und dritten Generation besser integriert als die der ersten. Das spiegelt sich in Schulabschlüssen, Sprachkenntnissen, Kontakt zu Menschen deutscher Herkunft und laut Studie auch im Kontakt zu Christen wider. Auch sinkt bei der neuen Generation das Empfinden, nicht als Teil der deutschen Gesellschaft anerkannt zu werden, oder gar das Bewusstsein, als Bürger zweiter Klasse betrachtet zu werden. Allerdings – und hier kommt der Knackpunkt – sinkt in den neuen Generationen die Zahl derer, die glauben, dass die Muslime in Deutschland sich der deutschen Kultur anpassen müssten. Ganz im Gegenteil denken die meisten, dass das selbstbewusste Stehen zu seiner Kultur und Herkunft sogar Bedingung für eine gute Integration sei. Geht das zusammen?

Wirklich beantworten lässt sich diese Frage erst, wenn verbindlich festgelegt ist, was Integration überhaupt bedeutet. Die subjektive Integrationserwartung, die der Einzelne an die Muslime im Lande hat, spiegelt nämlich selten den eigentlichen Begriff wider. Tatsächlich findet nur eine Minderheit der Deutschen eine präzise und umfassende Antwort auf diese Frage. Für eine verbindliche Definition lohnt es sich, einen Blick auf das zu werfen, was offizielle Stellen und Wissenschaftler formulieren.

Die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer, äußert sich auf ihrer Webseite zunächst sehr allgemein: „In einem allgemeinen Verständnis bedeutet Integration die Eingliederung in ein Ganzes, die Herstellung einer Einheit aus einzelnen Elementen“, oder anders gesagt, aus Vielem werde Eins. In Bezug auf die Integration in die deutsche Gesellschaft wird die Ausländerbeauftragte konkreter: „Bezogen auf das soziale Zusammenleben bedeutet Integration, dass kulturell und anderweitig verschiedene Personen und Gruppen einer Gesellschaft gleichberechtigt zusammenleben.“ Zusammenleben also, und zwar gleichberechtigt und in kultureller Vielfalt. Ferner wird betont, dass in der Wissenschaft keine Einigkeit über den Begriff der Integration herrsche: „Integration wird entweder als Prozess, als Funktion oder als Ziel verstanden und grenzt sich von Termini wie Separation, Assimilation oder Konflikt ab.“ Widersprechen diese Definitionen dem Selbstverständnis der neueren muslimischen Generationen? Eher bestätigen sie den Anspruch, dass das selbstbewusste Stehen zur Kultur eine Bedingung für Integration sei. Auch widersprechen sie den Meinungen, dass Integration „sich anpassen“ bedeute.

Was für eine Integration verlangt unsere islamische Verantwortung?

Eigens für diesen Artikel habe ich einige islamisch gebildete Geschwister mit der Frage konfrontiert, was denn Integration aus islamischer Sicht sei. Ich selbst verstand darunter immer lediglich eine Mischung aus der Gesetzestreue und dem Beherrschen der deutschen Sprache. Aber das ist, so fand ich heraus, für einen Muslim offensichtlich viel zu wenig.

Zur Integration gehört aus muslimischer Sicht auch erst einmal sich eine Menge von Fragen zu stellen: Wie geht es meinen Nachbarn, was denken sie, was brauchen sie, wie kann ich ihnen mitunter beistehen, ihnen helfen, ihre Fragen beantworten? Was bewegt meine Gemeinde, meine Stadt? Wie ist der Zustand meiner Gesellschaft, wie funktioniert das Zusammenleben hier überhaupt? Wie kann ich das islamische Ideal erfüllen, zum Fortschritt und zur Genesung einer möglicherweise angeschlagenen Gesellschaft beitragen? Wie ist der Zustand der Welt und welche Rolle spielt mein Land dabei? Was kann ich tun, um diesen Zustand zu verbessern?

Hier setzt der Integrationsprozess an. Eine islamische Maxime, die der traditionellen deutschen Kultur nicht fremd sein dürfte, lautet sinngemäß, dass Taten schwerer wiegen als Worte. Entsprechend gehört zur Integration eines Muslims im zweiten Schritt, Antworten auf diese Fragen zu finden und die Konsequenzen daraus in seinem Handeln umzusetzen.

Hat unser Nachbar Knieprobleme und kein Auto? Dann bieten wir ihm an, bei unserem Einkauf seine Getränke mitzubringen, damit er nichts schleppen muss! Was nützen uns sonst die berühmten Überlieferungen des Propheten, der sich um seinen kranken jüdischen Nachbarn kümmerte, wenn der eigene Nachbar uns egal ist?

Gibt es im Kindergarten unserer Kinder einen Elternrat, der über ein pädagogisches Konzept entscheidet? Engagieren wir uns dabei, es kindgerechter zu gestalten! Was nützen uns sonst die vorbildhaften pädagogischen Konzepte der Ahlulbayt (a.), wenn wir nicht versuchen, sie bei der Erziehung unserer und anderer Kinder mit einfließen zu lassen?

Werden in unserem Bundesland Hartz-IV‑Empfänger stärker dahingehend kontrolliert, was sie ausgeben, als Milliardenerben dahingehend, was sie versteuern? Haken wir nach, ob da nicht etwas falsch läuft! Was nützt uns sonst die 102. Sura des Qur’an, at-Takathur (die Mehrungssucht), wenn es mich nicht kümmert, dass in meiner Umgebung die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden?

Will unser Land ein Freihandelsabkommen mit den größten Verbrechern auf der Erde abschließen? Tun wir etwas dagegen und überlassen das Feld nicht immer nur anderen nach Gerechtigkeit strebenden Menschen unserer Gesellschaft. Integrieren wir uns auch hier, denn diese Menschen und wir sind Teil eines Ganzen und wir wollen, ja wir müssen versuchen eine vorbildhafte Gesellschaft gemeinsam mit ihnen zu errichten. Was nützen mir sonst der elfte und der zwölfte Vers der zweiten Sure des Qur’an, wenn ich nichts dagegen tue, dass unsere Regierung noch intensivere Geschäfte mit den größten Unheilstiftern auf Erden anstrebt?

Vor allem die Muslime der jüngeren Generationen brauchen sich heute in vielen Punkten nicht mehr in die hiesige Gesellschaft integrieren, das haben die oben genannten Studienergebnisse gezeigt. Sie brauchen es nicht, weil sie bereits lange Teil dieser Gesellschaft sind. Sie denken deutsch, halten sich an die Gesetze, haben immer bessere Schulabschlüsse.

Aber leider – und da müssen wir Muslime uns die schreckliche Aufforderung „Integriert euch!“ selbst anordnen – tun sich auch die jüngeren Generationen in weiten Teilen häufig schwer, sich so zu integrieren, wie es ihnen der Islam abverlangt (kurioserweise aber ausreichend, um der amtlichen Definition gerecht zu werden). Ein deutlich stärkeres Engagement in der deutschen Gesellschaft gehört zur religiösen Verantwortung, die wir Muslime in unserem Land tragen.