Lange habe ich überlegt, wie ich diesen Artikel beginnen soll – schließlich gibt es so unendlich viele Punkte, die erwähnenswert und wichtig sind, über die ich sprechen möchte. Letztendlich ist es vielleicht am gescheitesten, mit etwas Banalem anzufangen, das gar nicht so banal ist, wie es scheint. Es ist 10.00 und der Zug erreicht langsam den Hauptbahnhof. Friedlich sieht die verschlafene Stadt im wärmenden Sonnenschein aus; der sonstige Trubel scheint noch nicht hier angekommen zu sein, im Gegenteil; eine beruhigende Stille herrscht um mich herum. Bevor der Alltag losgeht, nutze ich die Zeit zum Reflektieren, zum Schreiben – ein Moment der Ruhe.
Bald ist Muharram, erinnere ich mich. Bilder, Assoziationen, Fragen kommen auf – auch ein schlechtes Gewissen. Ich beginne, mich zu fragen, ob ich in diesem einen Jahr genug für die Gerechtigkeit getan habe, ob ich der Unterdrückung trotzte oder gegen sie verlor. Bald ist Muharram, der erste Monat des islamischen Kalenders. Während in den meisten Kulturen und Religionen der Jahresbeginn ein erfreuliches Ereignis ist, betrauern schiitische Muslime die Tragödie, die sich vor 1400 Jahren um Imam Hussein, seine Familie und Anhängerschaft abspielte – Jahr für Jahr.
Erstaunlich, welch Feuer dieses Ereignis bis heute in den Herzen vieler Menschen, auch Nichtmuslimen, entfacht. Noch immer gedenken so viele jenem Tage, an dem der Enkel des Propheten sein Leben ließ. Im Namen der Gerechtig- und Menschlichkeit, im Namen des Freigeistes und des Friedens. Sie gedenken auch Sayyeda Zainab, der Schwester Imam Hussains, die einige Tage nach dem Martyrium ihres Bruders ihre Stimme erhob und vor Tausenden eine ausdrucksstarke Rede hielt, mit der sie an die Menschheit appellierte.
Aschura ist solch eine vielschichtige Tragödie – sie besitzt so viel mehr Dimensionen als die eine, die auf dem Ablauf der Geschehnisse basiert. Ich erinnere mich an meine Schulzeit und an Bertolt Brechts Lehrstücke, die stets in unscheinbaren Orten und Zeiten spielten- symbolisch für alle Orte und Zeiten stehend, und: essentielle Züge des Menschen aufzeigend.
So ist auch die Tragödie Karbalas ein umfassendes Lehrstück, das keinen zeitlichen Rahmen besitzt. Der Kampf für Gerechtigkeit ist ein unendlicher und stets aktueller Akt, solange der Mensch den Neigungen und der Habgier unterliegt. Solange es Menschen gibt, die Tag für Tag qualvoll Krieg und Hunger erliegen. Solange hiesige Unternehmen Kinder und Schwache ausbeuten. Solange aber auch wir „einfachen“ Bürger nichts dagegen tun. Wenn uns Imam Hussein eines zeigte, dann das, dass bereits eine kleine Anzahl von Menschen Großes bewirken kann – man muss nur bereit sein, Opfer zu geben.
Jahr für Jahr sollte uns das Gedenken an die Tragödie Karbalas, die unzählige hingebungsvolle Helden besitzt, zum Nachdenken und zum Reflektieren anregen. Sind auch wir bereit, zu opfern, Prioritäten zu setzen und Neigungen in den Hintergrund zu rücken? Sind wir soweit, unsere Stimme zu erheben und unseren Geist zu befreien? Sind wir bereit für all das? Diese Frage ist so unheimlich wichtig, denn es geht um ein überaus wertvolles, wichtiges Prinzip: Gerechtigkeit.
Allmählich setzt der tägliche Trubel auch hier ein; es wird laut, die Menschen strömen in Scharen aus dem Bahnhof, die Routine beginnt. Ein neues Jahr beginnt, eine neue Gelegenheit. Eine neue Gelegenheit, zu beweisen, wie sehr uns Imam Hussein und seine tragische Geschichte wirklich am Herzen liegt. Wie sehr wir zu uns und unsren Prinzipien stehen. Ein letzter, zuversichtlicher Blick in die friedliche Morgensonne und ein lautes, entschlossenes Versprechen: Wir müssen handeln!