IslamiQ: Was ist das überraschendste Ergebnis der Studie?
IslamiQ: In Ihrer Studie erwähnen Sie zwei Gruppen: muslimische Migranten und christliche Einheimische. Jedoch gibt es immer mehr muslimische „Einheimische“ und – dank der Migration – viele „christliche Migranten“. Inwiefern ist es richtig, Muslime als „Migrantengruppe“ zu betrachten und Christen als Einheimische?
Prof. Carol: Natürlich sind Muslime hier auch einheimisch, aber wenn wir interreligiöses oder interethnisches Zusammenleben untersuchen möchten, müssen wir die Gruppen irgendwie unterscheiden. Statt Einheimische könnten wir auch sagen, Menschen deren Eltern bereits in dem jeweiligen europäischen Land geboren wurden und der jeweiligen Herkunft sind, das ist aber einfach etwas lang. Es ging in der Studie nicht primär darum, einige Religionen als Migrantengruppen und andere als Einheimische zu bezeichnen. Unsere Stichprobe der Einheimischen war einfach überwiegend christlich. Darin sind jedoch keine Christen enthalten, deren Eltern beispielsweise in anderen Ländern wie Spanien oder Italien geboren wurden. Der Fokus lag auf Menschen, die muslimische Eltern hatten und aus dem ehemaligen Jugoslawien, der Türkei, Marokko oder Pakistan stammen.
Wir haben schon viele Daten über andere Einwanderergruppen, aber wenige, die uns erlauben, die Diversität innerhalb der muslimischen Gruppen zu untersuchen, weil beispielsweise Pakistanis in Deutschland einen kleinen Teil ausmachen und die vorhandenen Datensätze uns nicht erlauben systematische Untersuchungen zu machen. Deshalb haben wir diese vier Gruppen in sechs europäischen Ländern untersucht, so können wir auch sehen, ob es tatsächlich Gruppenunterschiede sind oder Menschen derselben Herkunft sich je nach Land, in dem sie leben, andere Einstellungen haben.
IslamiQ: Welche Positionen vertreten Muslime in Europa bezüglich ihren religiösen Rechten?
Prof. Carol: Tatsächlich sehen wir deutliche nationale Unterschiede in der Befürwortung bestimmter Rechte. In Deutschland und Belgien beispielsweise sehen wir die stärkste Befürwortung des Religionsunterrichtes für Christen und Muslime, sowohl seitens der Muslime selbst als auch bei Menschen ohne Migrationshintergrund -oder wie auch immer man sie nennen möchte.
Die französischen Muslime hingegen scheinen den Laizismus stärker verinnerlich zu haben und haben sich an den Franzosen ohne Migrationshintergrund/ohne muslimischen Hintergrund orientiert, was sich im internationalen Vergleich daran zeigt, dass sie weniger befürwortend gegenüber dem Kopftuch für Lehrerinnen sind, ganz im Gegenteil zu Muslimen und Einheimischen in den Niederlanden, die dem Kopftuch für Lehrerinnen am meisten zustimmen. Obwohl französische Muslime teilweise laizistischere Tendenzen zeigen, treten sie im Vergleich zu ihren nicht-muslimischen Staatsbürgern stärker für religiöse Rechte ein, nicht nur für ihre eigenen, auch für die der Christen.
IslamiQ: Laut Ihrer Studie scheinen offenkundige Symbole problematischer zu sein. Warum stören sich die Menschen an religiösen Symbolen?
Prof. Carol: Die Frage nach dem ‚Warum‘ können wir nicht direkt beantworten. In der Debatte werden jedoch oft liberale Geschlechterwerte angeführt, die für manche im Wiederspruch zur Kopfbedeckung stehen. Aber es scheint darüber hinaus auch etwas generell mit religiösen Symbolen in öffentlichen Institutionen zu tun zu haben, weil auch nicht-Muslime christliche Symbole in Schulen ein klein bisschen weniger unterstützen, als sie beispielsweise Religionsunterricht unterstützen. Hier scheint der Wunsch nach religiöser Neutralität in Schulen größer zu sein. Innerhalb Deutschlands werden ja beispielsweise Kreuze in Schulen teilweise sehr kritisch gesehen, wo die Meinungen je nach Bundesland stark auseinander gehen.
IslamiQ: Die Debatten um das muslimische Kopftuch laufen auf Hochtouren. Was wird in dieser Diskussion Ihrer Meinung nach falsch gemacht?
Prof. Carol: Ich denke, dass es eine wichtige, aber sehr emotionsgeladene Debatte ist. Als Wissenschaftlerin plädiere ich natürlich für eine besser fundierte Debatte, angeregt durch neue Studien zu potentiellen Konsequenzen für Lernverhalten, Einstellungen und Identität, wenn Lehrer unterschiedlichster Religionen (nicht nur muslimisch) religiöse Symbole tragen. Darüber hinaus, wäre es sinnvoll eine gute Studie zu den gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen zu haben, zum Beispiel, ob die gesetzliche Ablehnung in einigen Bundesländern die interreligiösen Beziehungen belastet.
IslamiQ: Je „frommer“ Muslime sind, desto toleranter gegenüber anderen Religionen sind sie. So lautet eines Ihrer Studienergebnisse. Wird der positive Effekt der Religiosität rundum ignoriert?
Prof. Carol: Der positive Zusammenhang zwischen Religiosität und der Bewertung religiöser Rechte für andere Religionen bezieht sich nicht nur auf Muslime, auch auf Christen. Das stimmt, Religiosität kann durchaus positive Effekte haben, zum Beispiel auf Hilfsbereitschaft bzw. Solidarität. Es gibt jedoch auch genug Beispiele, in denen zu starke Religiosität sich in das Gegenteil umkehren kann. Das ist besonders in Kontexten der Fall, wo eine Religion anderen als überlegen dargestellt oder staatlich stark favorisiert wird.
Die Klassiker in der existierenden Forschung weisen auch immer wieder darauf hin, dass Religiosität viele Facetten hat, und man unterscheiden sollte, welche religiösen Verhaltensweisen und Überzeugungen einen positiven oder einen negativen Effekt haben können. Während die Vielfältigkeit religiöser Wirkweisen in der wissenschaftlichen Debatte erkannt wird, ist dies in der öffentlichen Debatte in der Tat nicht oft der Fall.
IslamiQ: Religiöse Menschen sind in Europa eine Minderheit. Welche neuen Kooperationsmöglichkeiten bieten sich zwischen Muslimen und anderen religiösen Menschen an?
Prof. Carol: In unseren Daten sehen wir ja diese interreligiöse Toleranz. In Analysen der Mediendebatten zum Islam, die wir im Rahmen des EURISLAM Projektes durchgeführt haben, sehen wir auch, dass sich die Kirche in Europa im Durchschnitt pro-muslimisch verhält. Dies könnte man so interpretieren, dass das Interesse an der Stärkung der gesellschaftlichen Rolle der Religion etwas verbindendes sein kann, wozu sich unterschiedliche Gemeinschaften zusammenschließen. Nicht zuletzt wäre es unklug die Rechte anderer Gruppen beschneiden zu wollen, wenn man in der Minderheit ist, weil wir in einigen Staaten sehen. Am Beispiel Großbritannien sehen wir, dass die Existenz religiöser Rechte für eine Gruppe Forderungen einer anderen Gruppe erleichtern können, weil gleiche Rechte gefordert werden können.
IslamiQ: Befürworten Sie Staatsverträge mit Muslimen?
Prof. Carol: Eine Schwierigkeit besteht zurzeit unter anderem darin, dass die muslimische Gemeinschaft weniger zentralisiert ist als beispielsweise die katholische Kirche. Es gibt unterschiedliche Gemeinschaften, die unterschiedlich viele Mitglieder repräsentieren. Es gibt somit nicht einen einzigen Ansprechpartner für den Staat und nicht eine Organisation, die die Mehrheit der deutschen Muslime repräsentiert. Solange dies nicht gegeben ist, stelle ich es mir schwierig vor. In einzelnen Bundesländern wird dies jedoch umgangen und einzelne Verabredungen mit bestimmten Gemeinschaften zur Organisation des Religionsunterrichtes getroffen.
IslamiQ: Wo sehen sie das islamische Leben in Europa im Jahre 2050?
Prof. Carol: Wir haben beobachtet, dass alle westeuropäischen Länder (mit Ausnahme der Schweiz) langfristig zunehmend inklusiver geworden sind, was islamische Rechte betrifft. Ich erwarte, dass sich dieser Trend fortsetzt, sofern diese Rechte auch mit den demokratischen Grundwerten vereinbar sind. Wie sich die Lage verändert, hängt aber wahrscheinlich auch davon ab, welche Parteienkonstellationen wir haben, wie viele Muslime (mit Wahlrecht) zu diesem Zeitpunkt hier leben werden, woher sie kommen und ob der Bedarf bestehen bleibt oder es eine Abnahme von religiöser Praxis im Laufe der folgenden Generationen geben wird.