Der Aufruf von Frankreichs Premierminister Manuel Valls ließe sich auch als Drohung verstehen. „Falls der Islam der Republik nicht hilft, diejenigen zu bekämpfen, die die Grundrechte infrage stellen, wird es für die Republik immer schwerer sein, die freie Ausübung der Religion zu garantieren.“ Nach den neuen extremistischen Anschlägen wird der Ruf nach mehr Engagement der französischen Muslime lauter, um extremistischen Auslegungen ihrer Religion Paroli zu bieten.
Die Regierung will vor allem zwei Themen angehen: Die Ausbildung der Imame und die Frage der Finanzierung. Nach offiziellen Schätzungen haben nur 20 bis 30 Prozent der etwa 1800 Imame die französische Staatsbürgerschaft. 300 Imame sind von der Türkei, Algerien und Marokko geschickt. Zum Teil fließt von dort auch Geld an französische Moscheen, auch aus Saudi-Arabien.
Doch die Vertretung der vier bis fünf Millionen Muslime in Frankreich ist eine Dauerbaustelle – ein Problem, das aus Deutschland bekannt vorkommt. Dem Islam ist eine hierarchische Organisation fremd. Der 2003 gegründete Religionsgemeinschaft CFCM leidet unter Spannungen zwischen den Verbänden, oft unter dem Einfluss verschiedener Herkunftsländer von Einwanderern. Zudem sehen Kritiker ein Generationenproblem, der CFCM sei weit weg von der Lebensrealität junger französischer Muslime.
„Die Mehrheit der (aus dem Ausland) entsandten Imame ist niemals über die Shoah, die Homophobie, die Todesstrafe unterrichtet worden“, kritisierte die Senatorin Nathalie Goulet, Autorin eines Berichts zum Thema, in der Zeitung „Le Monde“. Der CFCM arbeitet nun an einer Charta für Imame, um diese auf einen toleranten und moderaten Islam zu verpflichten. Es gibt bereits Universitätskurse für staatsbürgerliche Kenntnisse.
Erschwert werden die Pläne durch das strenge französische Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat. Der Staat darf die Muslime bei der Imam-Ausbildung oder dem Bau von Moscheen nicht finanziell unterstützen. Nun soll eine Stiftung wiederbelebt werden, die schon vor Jahren ein Instrument zur Finanzierung des islamischen Lebens in Frankreich werden sollte. Eine Abgabe auf Halal-Produkte könnte künftig Geld in die Kassen spülen – falls die Religionsgemeinschaften sich einigen.
Es gibt aber auch Zweifel, ob die Regierung die richtigen Punkte ins Visier nimmt. Der Islamwissenschaftler Rachid Benzine etwa meint, nur weil eine Moschee Geld aus dem Ausland bekommt, bedeute das nicht, dass dort extremistische Positionen gelehrt werden. Zudem wird der „ideologische Krieg“ anderswo ausgetragen, wie er der Zeitung „Libération“ erklärte: „Die Zukunft des Islams liegt im Internet.“
Das Thema ist auch deshalb von Bedeutung, weil angesichts der wiederholten Anschläge die Sorge vor gesellschaftlichen Spannungen steigt – und manche nicht mehr zwischen Millionen Muslimen im Land und den Extremisten unterscheiden. „Wir erleben eine nie da gewesene Freisetzung islamfeindlicher Äußerungen, vor allem in den sozialen Netzwerken“, warnte CFCM-Chef Anouar Kbibech.
Nach dem Anschlag auf eine katholische Kirche gab es viel Lob für die Reaktion der islamischen Religionsgemeinschaften. Muslime gingen aus Solidarität demonstrativ in die christlichen Sonntagsmessen, eine als einmalig eingestufte Geste. „Wir Muslime haben geschwiegen, weil wir gelernt hatten, dass Religion in Frankreich Privatsache ist“, schrieben gut 40 muslimische Persönlichkeiten in einem Aufruf. „Jetzt müssen wir sprechen, weil der Islam eine öffentliche Angelegenheit geworden ist, und die derzeitige Situation nicht zu tolerieren ist.“