AhlolBayt News Agency (ABNA)

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Samstag

9 Juli 2016

07:29:47
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Wieso heißt es eigentlich Kopftuchverbot?

Das Verwaltungsgericht Augsburg hat einer muslimischen Rechtsreferandarin Recht gegeben und das Kopftuchverbot gekippt. Doch wieso heißt es eigentlich Kopftuchverbot, wenn es doch Arbeitsverbot heissen müsste? Ein Kommentar von Rechtsanwalt Yalçın Tekinoğlu

Das Kopftuch ist zu allererst ein Kleidungsstück, das die Aura der Frau bedecken soll. Für die moderne, muslimische Frau ist das Kopftuch ein Schutz vor unerwünschtem Kontakt -Stichwort: sexualisierte Gewalt und „Nein heißt Nein“- und Ausdruck ihrer Emanzipation. Ausdruck eines bemerkenswerten Selbstbewusstseins, gerade auch gegen den Widerstand einer intoleranten Gesellschaft und oftmals auch gegen den Widerstand der eigenen, religiösen Eltern aus der begründeten Angst vor Benachteiligung ihres eigenen Kindes, seiner Bildungschancen und Karrieremöglichkeiten trotz bzw. wider eines guten Intellekts und Begabung.

Staatlich-systematische Diskriminierung erfahren kopftuchtragende Frauen beim Zugang zu Bildungs- und Berufsmöglichkeiten, insbesondere als Lehrerin und Juristin, aber auch als Kindergärtnerin oder Polizisten, allgemein gesprochen als Beamtin, Staatsdienerin oder Hoheitsträgerin wie etwa als Notarin, Standesbeamtin oder Diplomatin. Eine unendliche Fülle an beschränkten Berufsmöglichkeiten ist denkbar.

Warum sollte der nächste EU-Vertrag nicht von einer deutschen Diplomatin mit Kopftuch ausgehandelt werden? Ist es undenkbar auf dem Standesamt im schönen alten Fachwerk-Rathaus von einer Standesbeamtin mit Kopftuch getraut zu werden? Wird die erste Frau im Amt des Bundespräsidenten womöglich ihre Haare nicht öffentlich zur Schau stellen und deshalb keine gute Erste Repräsentantin des Staates sein? Und wenn doch, sollte uns das beunruhigen? Können wir einer leitenden Oberstaatsanwältin mit Einser-Diplom und Schleier um ihr Haupt nicht die Erhebung einer öffentlichen Anklage zutrauen? Darf die vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht ein Urteil nicht „Im Namen des Volkes“ verkünden, während sie ein Tuch auf ihre Haartracht gebunden hat? Und wo liegt eigentlich der Unterschied zum vermeintlich jüdischen Richter namens Salomon Goldschmitt oder zur feministischen Staatsanwältin mit betont kurzen, rotgefärbten Haaren, die mit dem Motorrad zur Verhandlung anfährt? Und geht Herr Goldschmitt überhaupt regelmäßig in die Synagoge und hält jeden Samstag den Schabbat ein? Darf die rothaarige Staatsanwältin nur keine Sexualstraftaten gegen Männer verhandeln und Vergewaltigungsfälle gegen Frauen schon?

Pluralität im Gerichtssaal als Gebot der freiheitlich-demokratischen Grundordnung

Wer sich auf den gefährlichen Pfad solcher Gedankenexperimente begibt, bewegt sich außerhalb unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Jeder Verantwortungsträger in Justiz, Behörden oder sonstigen Einrichtungen des Staates, der einer muslimischen Rechtsreferendarin den Sitzungsdienst bei der Staatsanwaltschaft oder die Leitung einer mündlichen Verhandlung verweigert, missachtet die Ausbildungsverordnung, den Gleichheitsgrundsatz gemäß Artikel 3 unseres Grundgesetzes und unterliegt einem Irrtum bezüglich seiner Gründe.

Eine kluge, junge Muslimin, die das erste Juristische Staatsexamen bestanden hat, wird sich sicherlich nicht von ihrem Ehemann oder ihrem Vater zum Tragen des Kopftuches zwingen lassen. Das Kopftuch ist auch kein Symbol des Islam, sondern Ausdruck einer persönlichen Überzeugung, die den Charakter der Person maßgeblich mit ausmacht und daher nicht einfach für die Dauer einer Gerichtsverhandlung abgelegt werden kann. Der vielfach herangezogene Neutralitätsgrundsatz entpuppt sich bei näherer Betrachtungsweise als Scheinargument. Neutralitätsgrundsatz bedeutet nicht, alles Religiöse oder Persönliche dem Diktat der staatlichen Objektivitäts-Hygiene zu unterwerfen, sondern eben neutral gegenüber plurale, sichtbare Lebensweisen zu sein. Bei Gericht arbeiten keine Roboter nach Algorithmen, sondern Menschen, die auch ein Privatleben haben und aus dem Fundus dieses Privatlebens die bunten Fälle, die das Leben schreibt, konsequent und kompetent vor Gericht verhandeln können. Sei es als jüdischer Richter, als feministische Staatsanwältin oder eben nur Rechtsreferendarin mit Kopftuch.

„Bei Gericht arbeiten keine Roboter nach Algorithmen, sondern Menschen, die auch ein Privatleben haben und aus dem Fundus dieses Privatlebens die bunten Fälle, die das Leben schreibt, konsequent und kompetent vor Gericht verhandeln können. Sei es als jüdischer Richter, als feministische Staatsanwältin oder eben nur Rechtsreferendarin mit Kopftuch.“

Die Folgen des Ausgburger Urteils

Das Verwaltungsgericht Augsburg hat es sich in dem zugrundeliegenden Verfahren (Urteil vom 30.06.2016, Aktenzeichen: Au 2 K 15.457) einfach gemacht. Das Gericht hat nämlich lediglich auf die formelle Rechtswidrigkeit abgestellt, ohne die materielle Rechtswidrigkeit festzustellen. Das heißt, dass hier im konkreten Fall bereits die Rechtsgrundlage für das „Verbot des Tragens eines muslimisch motivierten Kopftuchs bei Ausübung hoheitlicher Tätigkeiten mit Außenwirkung“ gefehlt hat. Eine solche Rechtsgrundlage kann der Gesetzgeber allerdings schnell schaffen. Ob eine solche Rechtsgrundlage mit den Rechten der Klägerin vereinbar gewesen wäre, hat das Verwaltungsgericht erst gar nicht geprüft.

Es bleibt daher eine gewisse Unsicherheit, auch wenn das Urteil künftigen Generationen von Rechtsreferendarinnen Mut macht. Unsicherheit bleibt auch bezüglich der nächsten Instanzen. Der bayerische Justizminister hat bereits angekündigt, gegen das Urteil die zugelassene Berufung einlegen zu wollen. Dass die Berufung bereits im Urteil zugelassen wurde, ist ein seltener Umstand und der hohen Bedeutung des Falles zu verdanken. Üblicherweise muss die Zulassung der Berufung erst beim Oberverwaltungsgericht beantragt werden. Sollte das beklagte Land Bayern auch in der Berufungsinstanz unterliegen, würde voraussichtlich auch die Revision zum Bundesverwaltungsgericht zugelassen werden. Der Rechtsstreit könnte sich allein bis dahin um etliche Jahre hinziehen, theoretisch bis zum Bundesverfassungsgericht oder dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Die betroffene Klägerin hatte im September 2014 ihr Referendariat begonnen und wird dieses vermutlich Ende 2016 abschließen. Von einer rechtskräftigen Entscheidung wird sie daher nicht mehr persönlich profitieren. Wünschenswert wäre es, wenn das Urteil des Verwaltungsgericht Augsburg nunmehr eine Klagewelle angehender Referendarinnen ins Rollen bringt. Dabei ist zu empfehlen, neben einer Hauptsacheklage auch einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz zu stellen, damit jede Referendarin innerhalb kurzer Zeit eine vorläufige, verbindliche Regelung in ihrem Sinne erhält und vor Ende ihrer Referendarstationen auch wirklich einmal auf der Richterbank die Verhandlung leiten darf oder als Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft Anklagen verlesen, Plädoyers halten und Strafmaße beantragen darf, was sicherlich die unbestrittenen Höhepunkte in der praktischen Ausbildung eines jeden Referendariats sind.

Das Augsburger Urteil macht Mut

Angehenden Rechtsreferendarinnen ist anzuraten, rechtzeitig vor Beginn ihres Referendariats unter Zuhilfenahme spezialisierter Anwälte und Antidiskriminierungsverbände sich aller juristischen Mittel zu bedienen, um sich gegen ein drohendes Verbot zur Wehr zu setzen. Referendarinnen sollten sich auch nicht aus Angst vor Repressalien zum Opfer einer vielfach praktizierten „freiwilligen“ Verzichtserklärung degradieren lassen. Niemand sollte sich der Illusion hingeben, dass lediglich das Tragen des Kopftuches verboten würde. „Kopftuchverbot“ ist lediglich zu einem salonfähigen Slogan geworden, der von der Mehrheitsgesellschaft der „besorgten Bürger“ unter dem Deckmantel einer falschen Fürsorge vermeintlich unterdrückter Musliminnen akzeptiert wird.

Vielmehr kommt das Verbot in seinen konkreten Auswirkungen einem Berufsverbot für eine große Anzahl muslimischer Frauen gleich und führt damit erst Recht zu einer Unterdrückung. Faktisch führt das Verbot nicht zu einem Schutz vor Diskriminierung muslimischer Frauen, sondern setzt die Ursache für Benachteiligung, wie bereits das Bundesverfassungsgericht richtig erkannt hat. Richtigerweise sollte das Verbot nicht Kopftuch-„verbot“ heißen, sondern besser Arbeits- und Ausbildungsverbot, Verbot der gleichen Teilhabe am Leben, Verbot der Zuerkennung gleicher Rechte wie Personen ohne bestimmte Kleidung. Die unerträgliche Diskriminierung aufstrebender, karriereorientierter und erfolgreicher muslimischer Frauen hat mit dem Urteil des Verwaltungsgericht Augsburg ein vorzeitiges Ende gefunden.