Sie beschwören die abendländische christliche Kultur. „Die kulturellen Traditionen dieses Landes sind halt christlich-abendländisch und nicht muslimisch“, so hat des AfD-Vizevorsitzende Alexander Gauland mehrfach formuliert. Historiker machen allerdings darauf aufmerksam, dass der Begriff „Abendland“ eine Wundertüte mit unterschiedlichsten Inhalten ist.
Für den Berliner Antisemitismusforscher Wolfgang Benz ist das „Abendland“ ein Begriff, in den man „ganz viel eintüten kann“. Seit Jahrzehnten spielte er in der politischen Debatte kaum noch eine Rolle. Dann haben ihn AfD und die Bewegung „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (Pegida) neu erweckt – und knüpfen damit an Jahrhunderte alte Ängste vor dem Islam und Überfremdung an.
„Das Abendland ist ein Mythos, der vor allem im 17. und 18. Jahrhundert Hochkonjunktur hatte: Er steht für eine Wertegemeinschaft, die griechisch-römische Philosophie mit christlichem Denken verbindet und den Eindruck erweckt, als habe sich die Antike im Christentum vollendet“, erläutert Benz. Dabei sei die Rede vom Abendland immer eine Kampf- oder Abgrenzungsparole gewesen, die sich – je nach Situation – gegen die orthodoxe Kirche, den Islam oder den Bolschewismus gerichtet habe.
Nach den Worten des Berliner Historikers August Heinrich Winkler tauchte die Vorstellung schon im klassischen Altertum auf: Die Griechen hätten nach den Perserkriegen im 5. Jahrhundert vor Christus mit diesem Begriff ihre eigene Identität gegenüber den „Barbaren“, also den Fremden im Osten, ausdrücken wollen.
Im 16. Jahrhundert lebte der Begriff dann erneut auf: zunächst als Abgrenzung der lateinischen, auf Rom zentrierten Kirche gegen die ungeliebte orthodoxe Kirche, die ihr Zentrum in Konstantinopel hatte.
Als Konstantinopel dann 1453 von den Türken erobert wurde, lud sich der Begriff neu auf: Plötzlich grenzte er das christliche Europa von den Muslimen ab – ein Gedankenkonstrukt, das der Wirklichkeit nicht immer stand hielt. Denn schließlich war die christliche Welt alles andere als eine Einheit, wie die Kriege zwischen Protestanten und Katholiken sowie die militärischen Bündnisse zwischen katholischen Franzosen und Türken gegen die katholischen Habsburger zeigten.
Die Abgrenzung gegen den Islam blieb allerdings nicht der einzige Inhalt: In Deutschland entwickelten die Brüder August Wilhelm und Friedrich Schlegel im 19. Jahrhundert eine Vorstellung von Europa, die sich auf kulturelle Traditionen und das Christentum als einigendes Band Europas stützte. „Besondere Bedeutung maßen sie dabei Karl dem Großen als vermeintlichem Einiger Europas und Herrn über das christliche Abendland zu“, betont Winkler.
Daran knüpfte dann der Kulturphilosoph Oswald Spengler mit seinem 1918 erschienenen Werk „Der Untergang des Abendlandes“ an: Spengler verglich das christliche Abendland mit sieben anderen Hochkulturen und prophezeite seinen Verfall in Konkurrenz zu den demokratischen und kapitalistischen Staaten Frankreich und England sowie zum bolschewistischen Osten. Das Abendland wurde von Nationalkonservativen und Rechten okkupiert.
Spengler wurde damit, wie Benz betont, zu einem der Vorläufer der Nationalsozialisten. Nach der Niederlage von Stalingrad 1943 versuchte Hitler die Wehrmacht mit den Worten zu mobilisieren, sie müsse „bis zur letzten Patrone“ für die „Verteidigung des Abendlandes“ gegen den gottlosen Bolschewismus kämpfen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es erneut konservative und vor allem katholische Kreise, die den Begriff aufgriffen. „Dies wurde verbunden mit einer Verherrlichung des katholischen Mittelalters“, argumentiert Winkler. Das christliche Abendland sollte zur verbindenden Idee des zusammenwachsenden Europa gegen den Ostblock werden.
Danach wurde es still um das Abendland – bis zu Pegida und AfD. Heute wolle sich mit dem Begriff ein „fiktives ‚Wir‘ von einem als gefahrvoll dargestellten ‚Nicht-Wir‘ abgrenzen“, so beschreibt es der Theologe Manfred Becker-Huberti auf dem Internetportal katholisch.de.
Er warnt, dass solche Abgrenzungsprozesse stets Leid und Grauen zur Folge gehabt hätten.