In den Du’as und Ziyaras (Audienzen) der Ahlulbayt (a.) finden wir zwei wiederkehrende Elemente: Verfluchung (La’n) und Salawat. Die Ziyaratu Aschura ist das eindrucksvollste Beispiel dafür. Wir wollen uns in diesem Artikel auf die Bedeutung der Verfluchung konzentrieren.
Was ist Verfluchung? Es ist nichts anderes als ein Bittgebet, in dem wir Allah (swt.) darum anflehen, einen Menschen oder eine Menschengruppe von seiner Gnade abzuschneiden. Ein Beispiel aus Ziyaratu Aschura: „Möge Allah Schimr verfluchen.“ Wozu ein solches Bittgebet? Wird Allah die Mörder Imam Husseins (a.) weniger bestrafen, wenn wir sie nicht verfluchen? Oder wird er unsere Verfluchung zum Anlass nehmen, sie vermehrt zu bestrafen? Gibt es für jede einzelne La’n eine weitere Qual im Jenseits? Nein, nichts dergleichen. Dies ist ein triviales und falsches Verständnis von La’n.
Ihre Bedeutung ist ungleich umfassender und betrifft uns selbst. Wir können sie direkt aus Ziyaratu Aschura entnehmen. Die erste Aussage von La’n und der Betonung der Feinde der Ahlulbayt (a.) ist so offenkundig, dass man sie leicht übersieht: Wir haben Feinde! Nicht nur wir Muslime allgemein oder die offensichtlich Unterdrückten in fernen Ländern. Nein, jeder einzelne von uns hat konkrete Feinde, du und ich. Und sie heißen nicht Abu Sufyan, Yazid ibn Muawiya, Schimr, Ubaydullah. Sie sind keine historischen Umayyadan oder Abbasiden. Sie sind Menschen unserer Zeit, leben heute, unterdrücken heute: „Allah unser, verfluche den ersten Tyrannen, der das Recht Muhammads und der Familie Muhammads unterdrückte und den Letzten, der ihm darin gefolgt ist.“
Die Erkenntnis der heutigen Feinde der Ahlulbayt (a.), und damit der Menschlichkeit, ist das erste Ziel von La’n. Die Feinde gliedern sich in verschiedene Hierarchien, wie es die Ziyara beschreibt: „Allah unser, verfluche Yazid und verfluche Ubaydullah und Umar ibn Sa’ad und Schimr.“ Das bedeutet: Verfluche den Tyrannen, verfluche seine rechte Hand, verfluche dessen Befehlshaber in der Schlacht, verfluche die ausführenden Schergen. Insbesondere macht uns die Ziyara darauf aufmerksam, nicht allein Schimr zu verfluchen, sondern vor allem jenen, der Schimr Befehle erteilt und deren Befehlshaber bis hin zum Tyrannen der Zeit.
Wer sind die heutigen Feinde der Ahlulbayt (a.)? Sie zu erkennen ist leicht. So leicht, dass man sich verwundert an den Kopf fasst, wenn Schiiten historische Feinde verfluchen und ihre realen Feinde übersehen. Oder wenn Muslime die Schimrs unserer Zeit bekämpfen, aber nicht begreifen, dass Yazid dahintersteckt. Noch verworfener sind jene, die sich sogar hinter Yazid stellen oder behaupten, er sei gar nicht Yazid. Und die am weitesten abgeirrten sind jene, die behaupten, dass Muslim ibn Aqil selbst Yazid dienen würde. Auch solche gibt es in unserer Welt, und sie nennen sich Schiiten.
Und sucht nicht eine Stütze bei denen, die unterdrücken, sonst erfasst euch das Feuer. (Heiliger Qur’an, 11:113)
Aber die Erkenntnis der Feinde allein genügt nicht. Was ist danach zu tun? Wieder leitet uns Ziyaratu Aschura an: „Und ich habe mich losgesagt von ihnen, hin zu Allah und zu euch (Ahlulbayt) … und losgesagt habe ich mich von jenen, die euch den Krieg erklärt haben … Wahrlich, ich bin im Krieg mit jenem, der mit euch im Krieg ist … und Feind dessen, der euer Feind ist.“ Diese Worte werden oft rezitiert, zumeist ohne Verständnis. Solange es bloße Worte bleiben, sind sie wertlos. Was bedeutet es denn, sich von den Feinden „loszusagen“ und im „Krieg“ mit ihnen zu sein? Sind das denn keine gewaltigen Worte? Wenn Lossagung und Krieg nichts als Phrasen sind, dann bleiben sie ohne Wirkung. Und es könnte sein, dass man sie inbrünstig ausruft, und dabei Yazid dient und Imam Hussein (a.) bekämpft, so wie es Schiiten jahrhundertelang taten. „Und sucht nicht eine Stütze bei denen, die unterdrücken, sonst erfasst euch das Feuer.“ (11:113)
Die wahre Bedeutung muss uns in Fleisch und Blut übergehen: Wir fühlen uns dem Taghut unserer Zeit in keiner Weise verbunden, wir lehnen ihn mit jeder Faser unseres Seins ab, wir verfluchen ihn und seine Unterdrückungen in der ganzen Welt und wir stellen uns gegen ihn; mittels öffentlicher Aufklärung, Aktionen, Vorträgen, Artikeln. Mittels unserer Kaufkraft, unserer Kultur, unserer Sprache. Und am wichtigsten: mittels unseres unmittelbaren Einsatzes für die Unterdrückten. „Was hindert euch daran, zu kämpfen auf dem Weg Gottes und für diejenigen unter den Männern, den Frauen und den Kindern, die wie Schwache behandelt werden.“ (4:75)
Aber um dies zu bewerkstelligen, bedarf es mehr als nur des Verstandes und der wahren Erkenntnis. Es bedarf Gefühle, mit Verstand gerichtet gegen Unterdrückung. Man muss die Unterdrückung von tiefstem Herzen verabscheuen, muss sie hassen. Was nützt es, die Unterdrückung erkannt zu haben, aber sie zu lieben. Und so viele Muslime lieben Unterdrückung, Unterdrückung in ihrer Seele, ihren Familien, ihren Gemeinden. Ist jemand, der Unterdrückung liebt, imstande sie zu bekämpfen? Es ist von immenser Bedeutung, das wahrhaftige Gefühl der Abscheu aller Unterdrückung in sich heranzubilden. Denn diese Gefühle sind es, die uns motivieren und unser Handeln antreiben. Starke Gefühle der Ablehnung und des Hasses leiten zu Gott, wenn sie gegen die Unterdrückung gerichtet sind und als Treibstoff unseres verständigen Handelns dienen. Gleichsam führen sie aber ins Feuer, wenn sie unvernünftig und ungerichtet sind.
In unserem Zeitalter ist die brutalste Ausprägung der Unterdrückung zweifellos das Terrorregime „Israel“. Nicht allein unterdrückt und massakriert es seit Jahrzehnten in offener Apartheid die Palästinenser. Nicht allein überfällt es seine Nachbarn. Nicht allein unterstützt es die Tyrannen der Welt, die ihnen dienen. Auch steuern sie die Terroristen von ISIS und Co. Lasst uns also die Ziyaratu Aschura gegen diesen Yazid leben: Wir sehen uns inschallah bei der Demonstration zum Quds-Tag 2016 am 2. Juli in Berlin.