Es ist schon eigenartig, welche Geschichten das Leben schreibt, wenn es um Muslime geht, die ihre Grundrechte einfordern. Im neusten Fall weigern sich zwei muslimische Jugendliche aus religiösen Gründen, den weiblichen Lehrkräften zu Beginn und am Ende des Unterrichts die Hand zu geben. Als nun publik wurde, dass die Schule den beiden Schülern – wohlgemerkt schon vor Monaten – erlaubt hatte, ihren Respekt gegenüber den Lehrkräften auf andere Weise Ausdruck zu verleihen, brach ein Sturm der Entrüstung aus, der seinesgleichen sucht. Weltweit berichteten Medien über den Fall und sogar die Schweizer Justizministerin Simonetta Sommaruga meldete sich zu Wort.
„Bei uns macht man das so“
Haben sie recht? Nun, nüchtern betrachtet, stand weder die Gleichstellung von Mann und Frau – die beiden Schüler betonten das stets –, noch der Respekt vor den Lehrern – eine Alternative zum Händeschütteln wurde gefunden und praktiziert – oder die Integration – beide Jungen sind in der Schweiz aufgewachsen und bestens integriert – zur Debatte. Nüchtern betrachtet, wurde aus einer Mücke ein Elefant und von einem fehlenden Händedruck das Überleben des Abendlandes abhängig gemacht. Tatsächlich aber geht es um viel mehr: es geht um die Tendenz staatlicher Institutionen, grundlegende Rechte ohne Notwendigkeit und bestimmt von einer wertetotalitäre Haltung massiv einzuschränken, so wie es in diesem Fall geschehen ist. Die europäische Gesellschaft, die mit freiheitlichen Werten und der Gleichheit der Menschen, unabhängig von deren Geschlecht, Nationalität, religiöser Überzeugung, sexueller Orientierung und ethnischer Zugehörigkeit wirbt, und die international den moralischen Zeigefinger schneller ausfährt, als jemand Diskriminierung sagen kann – zumindest dann, wenn dadurch die eigenen wirtschaftlichen Interessen nicht tangiert werden –, wird hier ad absurdum geführt.
„Bei uns macht man das so“ und „das ist der Wille der Mehrheit“. Dies sind zwei der Argumente, die man im Zuge der Debatte um den Islam in der hiesigen Gesellschaft regelmäßig zu hören bekommt, und mir Angst machen. Ist es wirklich der Gedanke der Demokratie, dass die Rechte von Minderheiten eingeschränkt werden können, weil die Mehrheit es so bestimmt?
Eine pluralistische Gesellschaft definiert sich nicht über ihre Selbstbezeichnung, sondern dadurch, dass sie gelebt wird, als ein Neben- und Miteinander ihrer Mitglieder mit unterschiedlichen Lebensmodellen, Ideen und Glaubensüberzeugungen. Die Freiheitsrechte garantieren jedem Individuum innerhalb dieser Gesellschaft, nach eigenem Wunsch zu leben, solange es sich innerhalb der staatlich festgelegten Schranken bewegt, deren Aufgabe es ist, die Rechte des Einzelnen zu schützen und so ein Zusammenleben zu ermöglichen.
Was wird überhaupt verteidigt?
Natürlich darf Freiheit im gesellschaftlichen Kontext nicht als absolut, als Abwesenheit jeglicher Regeln gedacht werden, und notwendigerweise bedürfen selbst grundlegende Freiheiten die Möglichkeit, sie einzuschränken, nämlich dann, wenn das Ausleben der Freiheit des einen, die anderer tangiert, doch darum geht es in diesem Fall nicht. Es geht in diesem Fall, wie schon in so vielen davor, letztlich nicht darum, die Rechte Dritter zu schützen, sondern, den Islam in die Schranken zu weisen. Es geht um das „bei uns macht man das so“, um eine kulturelle Deutungshoheit, die unter dem Deckmantel einer Scheindebatte um Werte demonstriert wird und sich dabei doch selbst entlarvt: Was wird verteidigt, wenn mir verboten wird, ein Kopftuch zu tragen, obwohl wir staatliche verordnete Kleidervorschriften doch schon lange überwunden haben sollten? Meine persönliche Freiheit? Was wird verteidigt, wenn ich gezwungen werde, einer anderen Person die Hand zu geben, Körperkontakt mit ihr aufzunehmen? Mein Recht auf körperliche Integrität?
Was wird verteidigt, wenn man mir durch immer seltsamere Anordnungen und Verbote nicht zugesteht, als Muslim oder Muslima meinen Glauben zu leben? Mein Recht auf Religionsfreiheit? Was wird verteidigt, wenn die Polizei, wie im Thurgau geschehen, festlegt, dass ein zu langer Bart, ein „plötzlich“ getragenes Kopftuch oder die Beschäftigung mit dem Islam ausreicht, um der Radikalisierung verdächtig zu werden? Die säkulare Rechtsstaatlichkeit und die Maxime nullem crimen, nulla poena sine lege? Was wird verteidigt, wenn einer türkischen Familie von den Behörden seit 12 Jahren die Einbürgerung verweigert wird, weil die Frau ein Kopftuch trägt? Dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind?
Freiheit und Gleichheit wurden zu leeren Worthülsen
All das und mit ihr die Debatte um Islam und Integration ist letztlich doch nur Ausdruck eines ganz elementaren Problems, bei dem es sich nicht etwa um die alltägliche religiöse Praxis der Muslime handelt, welche angeblich so unvereinbar mit den Anforderungen des gesellschaftlichen Lebens in sogenannten „westlichen Ländern“ sein soll. Vielmehr ist das Grundproblem eine Gesellschaft, die sich in vielerlei Hinsicht in Unverbindlichkeiten geflüchtet hat und auf Kosten des vermeintlich Anderen im Sinne einer negativen Definition des Eigenen auf der Suche nach sich selbst ist, anstatt sich proaktiv die Frage nach der eigenen Identität zu stellen. Dabei werden jedoch genau die Werte, die Europa einst, als die Welt in Trümmern lag, in eine friedliche Zukunft führen sollten, verraten und Wörter wie Freiheit und Gleichheit verkommen zu leeren Worthülsen, die je nach politischer Präferenz befüllt und zu Waffen gegen jene werden, die sich in ihren Überzeugungen nicht auf gesellschaftspolitische Trends, sondern tief verwurzelter Religiosität berufen.