Als ich ein Kind war, erzählte mir meine schwäbische Großmutter von den „Männern aus dem Osten“, die nach dem Krieg gekommen seien „und sich die Häuser genommen“ hätten. Sie erzählte das mit Grabesstimme. Vor Augen hatte ich große, fremdartige Männer, die sich nehmen, was sie wollen. Gemeint waren die sogenannten „Ost-Flüchtlinge“, von denen 12 Millionen einwanderten, darunter Millionen „Volksdeutsche“, also Menschen, deren Vorfahren vor Jahrhunderten nach Osteuropa bis nach Sibirien ausgewandert waren. Diese wurden keineswegs als Volksgenossen willkommen geheißen, wie die Worte und der Tonfall meiner Oma illustrieren. Vielmehr wurden sie von vielen als fremd und bedrohlich wahrgenommen.
Es ist stark anzunehmen, dass dieses Gefühl der Bedrohung in bestimmten Teilen der deutschen Bevölkerung schon vorher angelegt war. Die „Flüchtlingskrise“ funktioniert damit nur als ein Katalysator, der diese Stimmung zum lodern bringt. Schon davor haben in Dresden Tausende gegen eine herbeifantasierte „Islamisierung des Abendlandes“ demonstriert. Schon davor zeigten die repräsentativen Erhebungen der „Mitte-Studien“ , dass zwischen 18 und 26 Prozent der Deutschen zu rechtsextremen Einstellungen neigen . Ebenfalls vorher brach das fast schon lachhaft schlecht gemachte Buch „Deutschland schafft sich ab“ des Rechtspopulisten Thilo Sarrazin Verkaufsrekorde – ein Buch, das 2013 vom UN-Antirassismus-Ausschuss als rassistisch eingestuft wurde.
Auseinandersetzung mit rechten Denkweisen
Leider verstehen es die Rechtspopulisten von Pegida und AfD den falschen Anschein zu erwecken, dass sie „den Deutschen“ einen unverklärten Spiegel entgegen halten. Sie bilden dabei zunehmend eine Gegenöffentlichkeit, eine „Informationsblase“, in die kaum noch unpassende Informationen aufgenommen werden. Die eigenen Sichtweisen verfestigen sich damit bis hin zur absoluten Wahrheit. In einer Unmenge von Websites und Blogs wird mantraartig das Bild des rückständigen „Südländers“ und „Muslims“ wiederholt; mal als Behauptung, dass der Islam hoffnungslos faschistisch sei, mal als These eines kranken Verhältnisses zur Sexualität „der Araber“. Unterfüttert wird das mit Unmengen von oft gefälschten Einzelmeldungen über Deutsche, die Opfer von Ausländerkriminalität geworden seien.
Die Website „Deutsche Opfer, fremde Täter“ sammelt diese sogar auf einer Google-Map. Aber auch Zeitungen wie die „Welt“, die an sich den Anspruch haben, Qualitätsjournalismus zu verkaufen, lassen es mitunter an jedem Augenmaß fehlen, und veröffentlichen unverhältnismäßig oft radikal anti-islamische Artikel oder Berichte über kriminelle „Ausländer“. Dabei müsste gut ausgebildeten Journalisten klar sein, dass es bei sechs Millionen Straftaten jährlich in Deutschland keine Besonderheit sein kann, dass eben auch täglich Straftaten von „Ausländern“ verübt werden. Wer davon überzeugt ist, dass die als homogen gedachte „Kultur der Ausländer“ rückständig und hässlich sei, für den ist der befürchtete Zustrom Millionen aggressiver Araber notwendigerweise eine apokalyptische Vorstellung.
Ein zentrales Problem bei der Auseinandersetzung mit rechten Denkweisen ist, dass deren Behauptungen in der Regel auch einen wahren Kern enthalten. Beispielsweise stimmt es, dass Migranten durchschnittlich und in absoluten Zahlen tatsächlich krimineller sind als „Deutsche“. Betrachtet man das Phänomen aber differenzierter und bezieht beispielsweise Alter, Geschlecht und soziale Lage der Delinquenten mit in die Rechnung ein, vergleicht man also Äpfel mit Äpfeln, löst sich diese Ungleichheit mehr oder weniger im Nichts auf.
Die Bedrohung durch eingeschleuste Terroristen wird ebenfalls verzerrt wahrgenommen: Bisher gab es in Deutschland einen Toten durch „islamistische“ Anschläge, dem stehen mindestens zehn Ermordete durch die NSU und viele Tausende durch Autounfälle entgegen. Dennoch ist die Gefahr real und nicht zu unterschätzen, zumal die Anschläge durch die Verbrecher des IS besonders blutrünstig sind. Die Vorstellung aber, man könne in einer globalisierten Welt das teils selbstverursachte Elend und die Gefahr ausschließen, fehlt jeder Realitätsbezug.
Schon alleine das Schließen aller Grenzen, das ja noch lange keine Behebung des Problems mit sich bringen würde, würde die an sich schon chronisch instabile Konjunktur empfindlich treffen. Dazu kommt, dass empfundene Benachteiligung und Gewalterfahrungen neue Brandherde schaffen, sie radikalisieren und brutalisieren Menschen (statistisch gesehen). Das heißt, ein Europa, das den Flüchtlingen nicht auf die eine oder andere Weise zu Hilfe kommt, schiebt das Problem nur zeitlich nach hinten und erzeugt neue Konflikte – ganz abgesehen vom moralischen Imperativ, Menschen in größter Not zur Hilfe zu kommen. Ein Paradebeispiel für die rechte Strategie, sinnvolle Kritikpunkte zu kapern und zu verzerren, ist auch die Frage der Integration: Die rechte, völkische Bewegung stellt sich „Integration“ als das Einfügen in eine kulturell homogene Volksgemeinschaft vor.
Homogene Volksgemeinschaft?
Dabei ist die Idee einer homogenen Volksgemeinschaft schon immer ein gefährliches Hirngespinst gewesen, wie Migrationsforscher Jochen Oltmer in einem Interview für den „Freitag“ an verschiedenen Beispielen aufzeigt. Gesellschaften sind nun mal keine Gemeinschaften. Es gehört wohl zum Erwachsen werden dazu sich mit der Vorstellung anzufreunden, dass die Menschen eben auch nebeneinander leben können, ohne eine tiefe, quasi verwandtschaftliche Verbindung zu verspüren. Eine Gefahr besteht aber tatsächlich in einer feindseligen Zersplitterung der Gesellschaft; eine Zersplitterung, die gerade die Rechte derzeit vorantreibt. Dem muss entgegengewirkt werden. Zum einen sollten bestimmte Grundregeln betont werden, wie sie sehr sinnvoll in den ersten Artikeln des Grundgesetzes niedergeschrieben wurden, und zwar von und Gegenüber allen gesellschaftlichen Gruppen (also nicht nur Migranten). Dazu gehören die Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, die Gleichwertigkeit der Menschen, die Unantastbarkeit der Privatsphäre, des Lebens und der Würde aller Menschen. Das sind nicht nur leere Worte, sondern Verpflichtungen für die Gegenwart und die Zukunft. Dafür müssen aber auch die materiellen Grundlagen hergestellt werden.
Hier kann von den Erfahrungen Nachkriegsdeutschlands gelernt werden: Damals bildeten die Zugewanderten zunächst eine Unterschicht. Erst der auch durch den Marshallplan angefeuerte Wirtschaftsaufschwung ermöglichte später deren soziale und ökonomische Integration. In der heutigen Situation muss das erste Mittel dieser Integration eine sozialere Politik sein. Es droht nämlich die Gefahr, dass die „Neuen“ sich auf Grund ihrer Handicaps im Wettbewerb um Arbeitsplätze zu einer neuen ethnisch konnotierten Unterschicht ausbilden. Deren Kinder würden dann zu den neuen Underdogs, was das verzerrte Bild der rückständigen „Ausländer“ weiter zementierte. Das gilt es zu verhindern. Darum ist ein Paket entschlossen durchgeführter Investitionen sinnvoll und notwendig – mit starken Investitionen in die Infrastruktur und soziale Dienstleistungen, um unter anderem die Bildungsabschlüsse der „Neuen“ entweder anzugleichen oder, auch orientiert am örtlichen Bedarf weiter zu entwickeln. Nur so kann die ökonomische und soziale Integration gelingen und das positive Potential dieser Zuwanderung ausgeschöpft werden.
Zusätzlich bedarf es zivilgesellschaftlicher Anstrengungen, die die derzeitige Dynamik der gesellschaftlichen Polarisierung durchbrechen, und der Rechten ihre derzeitige Dominanz im gesellschaftlichen Diskurs abtrotzen. Das kann nur gehen, wenn die Konfliktlinien neu gezogen werden. Es dürfen nicht Migranten gegen „Deutsche“ stehen, sondern Demokraten gegen Nicht-Demokraten. Sowohl Deutschstämmige als auch Menschen mit Migrationshintergrund müssen sich wechselseitig den Rücken stärken und sich gegen antidemokratische Kräfte in den „eigenen Reihen“ wenden. Krisen sind meistens auch Chancen. So wie nach dem Krieg die Lage in Deutschland erst einmal verzweifelt und bedrohlich schien, hat sich daraus viel Neues und oft Gutes entwickelt. Die derzeitige Chance für Deutschland liegt unter anderem darin, sich auf die Werte der Solidarität und der Freiheit zu besinnen, und diese nicht an nationalen oder völkischen Grenzen beginnen oder enden zu lassen.