Wie schon seit jeher dürfen wir auch in unserem Zeitalter und in Deutschland das Phänomen der Ablehnung der Statthalterschaft Gottes in der einen oder anderen Form beobachten. Eine Form der Ablehnung ist die Verneinung der Pflicht zur Nachahmung der Instanzen der Rückkehr (Maradschi’).
Man hört oft, dass dies eine neue Erscheinung sei und in den Anfängen der Großen Verborgenheit so nicht existiert habe. Diese Aussage ist eine sehr eingeschränkte Sichtweise über die Anfänge der Großen Verborgenheit. Zum einen ist die Nachahmung eine rationale Angelegenheit, die mit Sicherheit weder von Zeit noch von Ort abhängig ist, und zum anderen finden wir den Aufruf zur Nachahmung schon in den Worten der Fehlerlosen (Imame). Auch wenn wir also annehmen sollten, dass dies damals unter der Allgemeinheit der Schia unbekannt war, würde das weder an dem Aufruf dazu selbst rütteln noch die Verpflichtung verringern oder gar aufheben.
Wieso brauchen wir Idschtihad?
Zunächst aber sollte uns bewusst werden, warum wir überhaupt Gelehrte und den sogenannten Idschtihad (selbstständige Rechtsfindung) brauchen. Nachdem wir von Gott und vom Propheten (s.) überzeugt waren und den Islam als Religion anerkannten, war die Kenntnis über die Gesetze dieser Religion notwendig. Als offensichtlich wurde, dass die religiösen Quellen dafür das Buch Gottes und die allgemeine Sunna (des Propheten und der Fehlerlosen) sind und zwischen uns und der Zeit der Offenbarung viele Jahre stehen, verlangte die Kenntnis über die Gesetze der Religion nach wissenschaftlicher Anstrengung. Zu den Gründen gehört, dass mit der Zeit fehlerhafte Überlieferungen in die Tradition der Fehlerfreien eingeschmuggelt wurden. Und weil manchmal Sätze oder Wörter in bestimmten Überlieferungen in einem bestimmten Buch fehlen, oder weil die Begriffe oder Aussagen zu jener Zeit etwas anderes aussagten oder auf etwas anderes deuteten, als sie es in unserer Zeit tun. Zudem darf nicht vergessen werden, dass bestimmte Überlieferungen ihren zeitlichen und örtlichen Rahmen haben und in einem ganz bestimmten Kontext stehen. Es gibt Überlieferungen, die allgemeingültig sind, und welche, die nur in einem bestimmten Kontext, Ort oder Zeit Gültigkeit besitzen. Das alles ist nur ein kleiner Ausschnitt, der die Überlieferungen betrifft, ganz zu schweigen vom Tafsir des Qur’ans. Es ist offensichtlich, dass nicht jeder Mensch die Zeit und die Kraft besitzt, sich mit den Versen und den Überlieferungen soweit zu beschäftigen und sie zu studieren, bis er Rechtsurteile sprechen kann und somit die Erlaubnis zum Idschtihad erhält.
Ein weiterer gewichtiger Grund: Fortschritt und Entwicklung. Es gibt sehr viele neue Erscheinungen, die es zu der Zeit des Propheten (s.) und der Fehlerlosen (a.) nicht gab – wie ist also zu urteilen? Auch das gehört zu den Aufgabenbereichen eines Mudschtahids: aus den Quellen Grundsatzregeln zu extrahieren, die wiederum auf neue Erscheinungen anwendbar sind. Viele sind sich überhaupt nicht bewusst, was für eine große Arbeit hinter einer Rechtssprechung (Fatwa) steht und sie wundern sich, warum diese Männer ihre Bärte durch das Studium weiß werden ließen. Der Idschtihad ist somit eine Notwendigkeit, bis Allah seinen Beweis erscheinen lässt.
Weshalb brauchen wir Taqlid?
Weil der einzelne Mensch nicht in jedem Bereich ein Experte sein kann, haben sich einzelne Gruppen in verschiedenen Bereichen spezialisiert. So existieren in jedem Bereich des Lebens Experten, sei es in der Wirtschaft, im Sozialwesen oder in der Medizin. Auch wenn die Allgemeinheit der Menschen ein paar Grundlagen der verschiedenen Gebiete kennt, so bleibt ihr vieles unbekannt, was nur dem Experten durch ein intensives Studium einsichtig ist. Das heißt: Auch wenn ich heutzutage mir viele medizinische Fragen durch Google beantworten kann, würde ich niemals nur deswegen als Arzt anerkannt werden, und wenn es ernst wird, sucht man sofort eben jenen studierten Experten auf.
Der Islam ist da keine Ausnahme, im Gegenteil: Er vermittelt eben jene rationale Gesellschaftsform, wonach eine Gruppe ausrücken soll, um sich in der Religion zu spezialisieren. Allah hat also nicht alle Menschen dazu verpflichtet, alles stehen und liegen zu lassen, um sich in der Religion zu spezialisieren. So wie er aber auch nicht allen Menschen erlaubt hat, den Versuch zu starten, direkt aus den Quellen, einfach nach eigenem persönlichem Verständnis und Können, Gesetze zu extrahieren, sondern ihnen die Notwendigkeit der Aufsuchung der Gelehrten zeigte und den Weg zur Nachahmung der Experten wies. Die Definition von Idschtihad und Taqlid lautet demnach wie folgt:
Idschtihad: Die Spezialisierung in den religionsgesetzlichen Wissenschaften.
Taqlid: Das Zurückgreifen auf die Spezialisten.
Warum man das Wort „Taqlid“ (Nachahmung) für das Zurückgreifen auf die Spezialisten benutzt, ist damit zu erklären, dass der religiös Erwachsene seine Taten nach den Vorgaben des Spezialisten ausrichtet, und darin ist ein Hinweis darauf, dass der Spezialist die Verantwortung für all diese Taten auf den Schultern trägt, wie die anerkannte Überlieferung von Ar-Rahman bin al-Hadschadsch bestätigt: „Abu Abdillah (a.) saß in einer Sitzung von Rabi’at ar-Ray. So kam ein Beduine zu Rabi’at ar-Ray und stellte ihm eine Frage, woraufhin Rabi’at ar-Ray diese beantwortete. Daraufhin fragte der Beduine: ‚Trägst du die Verantwortung dafür (die Antwort)?‘ Rabi’at ar-Ray schwieg. So wiederholte sich das weitere zwei Male, bis Abu Abdillah (a.) sprach: ‚Er trägt die Verantwortung dafür, ob er es sagt oder nicht, und jeder Mufti (Rechtssprecher) ist Bürge/Garant.‘“ [Wasail al-Shia]
In diesem Sinne unterscheidet sich diese Nachahmung auch von der ungültigen und fanatischen Nachahmung des Ignoranten. Die Nachahmung und das Eilen zur Bestätigung der Meinung einer Person, für dessen Befolgung wir keine Gründe haben, ist nicht vergleichbar mit der begründeten Nachahmung des Spezialisten in seinem Spezialbereich. So ist diese Form der Nachahmung die Tradition des Lebens und der Muslime seit Anbeginn des Islams, die der Qur’an und die Überlieferungen verlangen, doch die unbegründete haltlose Nachahmung ist diejenige, die der Qur’an kritisiert:
Nein, sie sagen: „Wir fanden unsere Väter auf einem Weg und wir lassen uns von ihren Fußstapfen leiten. Und ebenso sandten Wir keinen Warner vor dir in irgendeine Stadt, ohne dass die Reichen darin gesagt hätten: „Wir fanden unsere Väter auf einem Weg, und wir treten in ihre Fußstapfen.“ (Ihr Warner) sagte: „Wie? Auch wenn ich euch eine bessere Führung bringe als die, welche ihr eure Väter befolgen saht?“ Sie sagten: „Wir leugnen das, womit ihr gesandt worden seid.“ (Sura 43, Az-Zuchruf, 22-24)
Der Idschtihad und der Taqlid sind kontinuierliche Fundamente
Der Idschtihad und die wissenschaftliche Anstrengung wird fortwährend von den Gelehrten praktiziert und es ist eine Selbstverständlichkeit der wissenschaftlichen Entwicklung, dass die Ansichten mit der Zeit genauer werden und die aktuellen Gelehrten immer einen weiteren Blick und größeren Überblick haben und dadurch zu einer größeren Tiefe in der Extrahierung der Quellen gelangen. Und das ist einer der Gründe, weshalb die Gelehrten von vor einigen Jahrhunderten nicht nachahmbar sind, denn das wäre wie das Vertrauen und Handeln nach der Meinung eines Arztes aus eben jenem Jahrhundert und das Ignorieren der Meinung der heutigen Ärzte. Deshalb war und ist die Beziehung zwischen Mardscha und Muqallid immer eine lebendige, kontinuierliche und sich erneuernde Beziehung, die umso mehr an Heiligkeit gewinnt, da der Marscha der allgemeine Vertreter des Fehlerlosen ist in den Fragestellungen der Religion. So ist der Mardscha der Dreh- und Angelpunkt für das Verständnis der Angelegenheiten ihrer Religion.
Einerseits wird zum Streben nach Wissen und zum Studieren der Religion aufgerufen. So rief Allah dazu auf: Wenn doch von jeder Gruppe von ihnen ein Teil ausrücken würde, um (mehr) von der Religion zu erlernen und um ihre Leute zu warnen, wenn sie zu ihnen zurückkehren, auf dass sie sich vorsehen mögen. (Sura 9, Al-Tauba, 122)
Und der Prophet (s.) erklärte uns daraufhin die Stellung der Gelehrten, indem er sprach: „Die Gelehrten sind die Erben der Propheten.“ [Usul al-Kafi] Imam Ali (a.) erläuterte fortführend, dass die Angelegenheiten in ihren Händen lägen: „Und die Leitung der Angelegenheiten und Anordnungen ist in den Händen der Gottesgelehrten, die Vertauenswürdigen im Bezug auf Seinen Halal und Haram.“ [Tuhaf ul-Uqul]
Damit sie dieser großen Verantwortung nachkommen können und wahrhaftige Erben der Propheten werden, sodass die Menschen sich auf sie verlassen können, beschrieb uns Imam Al-Askari (a.), welchen unter den sog. Gelehrten wir folgen müssen: „Sodann, wer von den Rechtsgelehrten (Fuqaha‘) sein Selbst bewahrt, seine Religion beschützt, seinen Neigungen sich widersetzt, dem Befehl seines Souveräns gehorcht, so soll die Allgemeinheit ihn nachahmen (yuqailiduh).“ [Wasail al-Shia]
Imam Sadiq (a.) hat es noch einmal verdeutlicht, als er die sog. Gelehrten warnte und sprach: „Derjenige, der durch sein Wissen isst, wird verarmen.“ So fragte einer der Anwesenden den Imam: „Von euren Anhängern (Schia) gibt es welche, die eure Wissenschaften kennen und sie bei euren Anhängern verbreiten, und sie verwehren ihnen nicht das Gute, die Gabe (als Entlohnung) und die Großzügigkeit.“ Da antwortete der Imam: „Das sind nicht die Esser. Es ist derjenige, der ein Rechtsurteil ausspricht (Yafti) ohne Wissen und ohne Rechtleitung von Gott, damit er die Rechte annulliert, aus Verlangen für die Trümmer (Anm. des Autors: Gemeint sind die Belanglosigkeiten, Nutzlosigkeiten) der Welt.“ [Wasail al-Shia]
Dies bestätigte zuvor schon der Prophet (s.) durch seine Worte: „Die Rechtsgelehrten sind die Anvertrauten der Gesandten, solange sie nicht in das Diesseits (Dunya) eingetreten sind.“ Da wurde er gefragt: „O Gesandter Gottes, was lässt sie in das Diesseits eintreten?“ So sprach er (s.): „Die Befolgung des Sultans. Wenn sie dies tun sollten, dann hütet euch vor ihnen im Bezug auf eure Religion.“ [Usul al-Kafi]
Deswegen sprechen wir von gerechten Gelehrten und die Gerechtigkeit ist eine der Bedingungen für den Zeugen und Bezeugten, denn der Prophet sprach (s.): „Diese Religion wird in jedem Jahrhundert von Gerechten getragen, die sie gegen die Interpretationen der Annullierer (Anm. des Autors: Im arabischen Original ist die Rede von „Mubtilien“, was möglicherweise Nihilisten mit einschließt), die Verfälschungen der Übertreiber (Ghalin) und gegen die Plagiate der Ignoranten beschützen, so wie das Blasebalg das Eisen vor dem Kaputtgehen schützt.“ [Wasail al-Shia]
Auch weist der Prophet (s.) mit diesen Worten daraufhin, dass die Religion sich niemals von den gerechten Gelehrten trennen und abspalten wird und es zu jeder Zeit Gelehrte geben wird, die den Idschtihad praktizieren werden.
Andererseits wird zum Festhalten an den Gelehrten und zu ihrer Befragung aufgerufen, und es wird ohne Zweifel dazu angehalten, zurückzukehren zu den Instanzen der Rückkehr (Maraji‘) und sie zu fragen, da Gott selbst uns auftrug: So fragt die Leute der Ermahnung, wenn ihr (etwas) nicht wisst. (Sura 16, Al-Nahl, 43)
Derart, dass sogar der Anblick des Gesichtes eines Gelehrten zum Gottesdienst erklärt wurde, damit die Menschen motiviert werden, die Gelehrten und ihre Gesellschaft aufzusuchen und dadurch lernen und profitieren, was durch sehr viele Quellen bestätigt worden ist: Es wird überliefert von Ahmad bin Ishaq von Abu al-Hassan (Imam al-Hadi) (a.): „Ich fragte ihn (Imam Hadi (a.)): ‚Mit wem soll ich handeln, von wem soll ich nehmen und wessen Wort soll ich akzeptieren?‘ So antwortete er (a.): ‚Al-’Amriy ist mein Vertrauenswürdiger, was er von mir überbringt, ist (tatsächlich) von mir überbracht und was er von mir sagt, ist von mir gesagt. Deswegen höre auf ihn und gehorche ihm, denn er ist mein vertrauenswürdiger Anvertrauter.‘“ Er sagt (Ahmad bin Ishaq): „Ich fragte Abu Muhammad (Imam al-Askari) (a.) und er antwortete: ‚Al-’Amriy und sein Sohn sind beide Vertrauenswürdige, was sie von mir überbringen, haben sie von mir überbracht und was sie dir sagen, ist von mir gesagt. So höre auf sie und gehorche ihnen, denn sie sind vertrauenswürdige Anvertraute.‘“ [Wasail al-Shia]
Von Ishaq bin Yaqub wird überliefert, dass er sagte: „Ich fragte Muhammad bin Uthman al-’Amriy nach einem Buch, in dem meine Fragen beantwortet werden, so überbrachte er mir ein Buch, in dem die Unterschrift unseres Meisters Sahib al-Zaman enthalten war (indem stand): „Bei den eintreffenden Angelegenheiten kehrt zurück zu den Überbringern unserer Überlieferungen, denn sie sind mein Beweis (Hudscha) über euch und ich bin der Beweis Gottes.“ [Kamal al-Din wa Tamami Ni’matih]
Das Geheimnis in dem Wortlaut „Überbringer unserer Überlieferungen“ liegt vielleicht darin, dass die Gelehrten nicht etwas von sich aus verbreiten, sondern nur, was sie durch die Quelltexte erreicht hat und ihre Worte dadurch nichts anderes sind, als die direkte und indirekte Überbringung der Überlieferungen der Ahlulbayt.
Die Gelehrten – nur die Imame?
Wenn man von den Gelehrten in den Überlieferungen spricht, dann wird von einigen Ablehnern gerne das Argument vorgebracht, dass die Gelehrten nur die Fehlerlosen seien und sonst niemand. Ich sehe es als notwendig an, kurz auf diese Irreführung einzugehen:
Dies ist eine unfundierte Behauptung und widerspricht den Glaubensgrundsätzen dieser Gruppierungen, denn Al-Kulayni (der Autor von Al-Kafi) selbst war nicht der Auffassung, dass damit die Fehlerlosen (a.) gemeint seien. Die Überlieferung über die Erben taucht im Kapitel „Vorzug des Wissens“ im Abschnitt „Lohn des Gelehrten und des Lernenden“ auf und ist somit ein klarer Hinweis, welcher Gruppe er die in dieser Überlieferung erwähnten Gelehrten zuordnete. Liest man die ganze Überlieferung, wird diese Bedeutung noch klarer, da der Prophet mit den Worten beginnt: „Wer einem Wege folgt, indem er nach Wissen strebt, so wird Allah ihm einen Weg zum Paradies ebnen.“ Nachdem der Prophet (s.) dann sagt „Die Gelehrten sind die Erben der Propheten“, spricht er weiter: „Die Propheten vererben weder Dinar noch Dirham, sondern sie vererben das Wissen. Sodann, wer davon nimmt, hat reichlichen Wohlstand genommen.“ Und diese Worte sind mehr als eindeutig für jeden mit klarem Verstand. Der Prophet (s.) kann nicht über die Imame sprechen, wenn er von der Möglichkeit der Einnahme des Wissens für jedes Individuum spricht. Zudem erlernten die Imame ihr Wissen nicht durch Lehrer, sondern besaßen göttliches Wissen.
Die Ablehner werfen uns vor, wir würden die Überlieferungen uminterpretieren und die offensichtliche Bedeutung der Wortlaute ignorieren, in diesem Fall aber praktizieren sie selbst genau das, was sie vorwerfen. Da sie offensichtlich diese klare Überlieferung uminterpretieren und das Wort „Gelehrte“ zum Synonym einzig und allein für die Fehlerlosen erklären. Obwohl wir sogar noch Überlieferungen haben, die das Wort Gelehrte nicht zum Exklusivrecht der Fehlerlosen erklären, wie beispielsweise: Imam as-Sadiq (a.) sagte: „Zaid war ein Gelehrter und ein Wahrhaftiger.“ [Usul al-Kafi]
Das sollte als Beweisführung genügen.