Die Freiheit der westlichen Frau wird vielfach darin gesehen, dass sie im Gegensatz zu der muslimischen Frau in der Auswahl ihrer Kleidung völlig frei sei. Missachtet werden allerdings die neuen Zwänge des Schönheitsideals, welches Frauen unterliegen wenn sie sich freizügig zeigen wollen: Der Körper darf nicht zu dick oder zu dünn sein. Die Haut darf weder zu alt noch zu schlaff sein.
Frauen, die sich „freizügiger“ kleiden, seien selbstbewusster. Selbstbewusster deswegen weil sie sich trauen ihren Körper zur Schau zu stellen. Sie fühlen sich schön und haben nichts zu verbergen. Wobei muslimische Frauen mit Verhüllung [hidschab] – laut obiger Vorstellung – nicht selbstbewusst sind. Schaut man aber genauer hin, ist das Selbstbewusstsein der Frauen ohne Verhüllung eher ein Fremdbewusstsein. Denn solche Frauen benötigen ständig die Bestätigung der Gesellschaft, dem aktuellen Schönheitsideal zu entsprechen. Wohingegen muslimische Frauen mit Verhüllung Unabhängig vom geltenden Schönheitsideal Selbstbewusst sind, auch ohne Bestätigung von außen.
Die banale Polarisierung zwischen Freiheit und Zwang ist schließlich auch in Bezug auf die sexuelle Befreiung fragwürdig. Auch hier hat die Freiheit neue Zwänge hervorgebracht. So hat das westliche Modell zu extremen Formen der Sexualisierung der Gesellschaft, der Kommerzialisierung der Sexualität und zu neuen Formen von Gewalt und sexueller Ausbeutung geführt.
Der „Fortschritt“ dieser „Befreiung“ wurde mit massiven Rückschritten erkauft.
Diese Beispiele zeigen, dass Freiheit kein absoluter Wert sein kann, sondern sowohl durch die Zwänge der Selbstkontrolle wie auch durch neue Formen relativiert wird. Entscheidend ist nicht nur die Freiheit, etwas tun oder lassen zu können was man möchte, sondern auch, inwieweit man die Konsequenzen einer solchen Wahl kontrollieren oder zumindest mitbestimmen kann.
Selbstverständlich sind Gewalt und Zwang anzuprangern – dies allerdings in jeder Form. Die Gegenüberstellung von der westlichen Freiheit und der „islamischen Unterdrückung“ führt zu einer zu banalen Polarisierung der Welt, wodurch die Spannungen der jeweils widersprüchlichen Gegenwart aufgehoben wird: Im westlichen Selbstbild wird das Risiko des Scheiterns negiert, während den Muslimen das Potential des Fortschritts abgesprochen wird.
Solche Polarisierungen bieten einfache Erklärungen. Sie befreien von inneren Widersprüchen. Hier werden Positionen ausgehandelt, welche die gesellschaftlichen Verhältnisse innerhalb der Mehrheitsgesellschaft wie auch ihre Beziehung zur muslimischen Minderheit mitbestimmen.
In diesen Diskursen liefert die Muslima eine Folie, vor deren Hintergrund die Emanzipation der westlichen Frau umso heller erstrahlen kann. Die Schattenseiten westlicher Emanzipation mit ihren spezifischen Zwängen und neuen Formen von Gewalt können leicht übersehen und die Risiken überspielt werden. Ausschlaggebend für die Bewertung dieser Emanzipation ist nun nicht mehr die Ungleichheit zwischen Mann und Frau, sondern der Abstand zwischen der westlichen Frau und der Muslima.
Die Aufmerksamkeit wird verschoben, womit der Handlungsdruck, das Geschlechterverhältnis zu ändern, geringer wird. Der Konfliktstoff wird gewissermaßen „outgesourct“. Damit lässt sich zumindest teilweise erklären, warum so viele Menschen sich plötzlich für die Gleichstellung der Frau interessieren, sobald es sich um den Islam handelt: Sie können damit ihre eigene „Fortschrittlichkeit“ unter Beweis stellen, ohne sich tatsächlich dafür bemühen zu müssen.
Insofern ist die Debatte in dieser polarisierenden Form rückständig für die westlichen Frauen, scheint sich ihr Anliegen doch nun weitgehend erledigt zu haben. Ein solcher auf die Muslime beschränkter Diskurs blendet interne Debatten völlig aus.
Die pauschale Zuschreibung von Rückschrittlichkeit hat dabei den Effekt, Muslimas dieser Gesellschaft fremd zu machen und als nicht zugehörig zu markieren. Das hat unter anderem zur Folge, das ihnen der Zugang zu den verschiedenen gesellschaftlichen Ressourcen erschwert werden. So hat die Muslima keine Wahl als zu Hause bei den Kindern zu bleiben und wenn es soweit kommt, wird sie für rückschrittlich gehalten, weil sie zu Hause bei den Kindern bleibt. Ein immer währender Kreislauf.
Tatsächlich aber sind Muslimas in Deutschland, die sich für ein Kopftuch entscheiden, in der Mehrzahl junge selbstbewusste Frauen. Ein Rückschluss vom Kopftuch auf die Rückschrittlichkeit von Frauen ist also nicht zulässig. Eine grundlegende Paradoxie in der Debatte liegt darin, dass Muslimas im Namen ihrer Emanzipation von attraktiven gesellschaftlichen Positionen fern gehalten werden. Insofern liegt eine wesentliche Schwierigkeit für die Mehrheitsgesellschaft darin, zu erkennen, dass ihr Modell von Emanzipation selbst repressiv und rückständig ist, oder wie Emma Goldman sagte:
„Die Frauenrechtsbewegung hat sicherlich viele alte Fesseln gesprengt, gleichzeitig jedoch zum Entstehen neuer beigetragen.“