AhlolBayt News Agency (ABNA)

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Sonntag

17 April 2016

03:57:23
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Zur Not auch gegen das Neutralitätsprinzip

Das Arbeitsgericht Berlin wies am Donnerstag die Klage einer muslimischen Lehrerin ab. Sie hatte aufgrund der Ablehnung ihrer Einstellung an einer Grundschule geklagt. In einer Stellungnahme legt der Antidiskriminierungsverband FAIR international dar, wieso das Urteil aus verfassungsrechtlichen Gründen problematisch ist.

Das Postulat der Neutralität wird gerne bemüht und gebetsmühlenartig wiederholt, wenn es darum geht, das Herausdrängen von allem Religiösen aus dem öffentlichen Raum zu begründen. Verkannt wird dabei – bewusst oder unbewusst –, dass das Gebot nach dem verfassungsrechtlichen Verständnis genau das Gegenteil besagt.
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Denn nicht nur verbietet die Neutralität dem Staat, bestimmte Religionen oder Weltanschauungen zu privilegieren und sich mit ihnen zu identifizieren. Darüber hinaus gebietet die Neutralität dem Staat, einen „Raum für die aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung und die Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet zu sichern“. Der freiheitliche Staat des Grundgesetzes ist nämlich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gekennzeichnet von einer „Offenheit gegenüber der Vielfalt weltanschaulich-religiöser Überzeugungen und gründet dies auf ein Menschenbild, das von der Würde des Menschen und der freien Entfaltung der Persönlichkeit in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung geprägt ist.“ Das Neutralitätsgebot ist demzufolge in diesem offenen und nicht im laizistischen Sinn zu verstehen.

Unter diesem Blickwinkel hat das Bundesverfassungsgericht in seiner sog. „Kopftuchentscheidung II“[1] die Privilegierung der Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen durch das nordrhein-westfälische Schulgesetz für verfassungswidrig erachtet. Zudem hat es in seiner Entscheidung dem pauschalen Verbot religiöser Bekundungen in öffentlichen Schulen durch das äußere Erscheinungsbild von Pädagoginnen und Pädagogen einen Riegel vorgeschoben.

Denklogisch kann also ein Gesetz, welches prinzipiell das Tragen religiös geprägter Kleidungsstückeunter anderem durch Lehrkräfte in öffentlichen Schulen untersagt, mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht vereinbar sein. Dass diese Regelung auch noch als „Neutralitätsgesetz“ bezeichnet wird, erscheint als ein satirisch anmutendes Paradox. Das Land Berlin jedoch krallt sich ungeachtet des eindeutigen BVerfG-Beschlusses an dem Gesetz fest. Weder die Abschaffung des Kopftuchverbots in anderen Bundesländern noch ein Gutachten des wissenschaftlichen Parlamentsdienstes konnten den Berliner Senat bis jetzt vom Gegenteil überzeugen.
FAIR international – Federation against Injustice and Racism e.V. ist ein unabhängiger Antidiskriminierungsverband mit Sitz in Köln, der die Interessen von benachteiligten Personen und Personengruppen wahrnimmt. Der Schwerpunkt des Verbandes liegt in der Arbeit gegen Diskriminierungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft und der Religion.

Das Arbeitsgericht Berlin hat in seiner Entscheidung vom 14.04.2016 – 58 Ca 13376/15 dem Land nun völlig unerwartet Recht gegeben. Das Gericht wies nämlich die Entschädigungsklage einer Lehramtsbewerberin des Landes Berlin ab. Aufgrund ihres Kopftuchs war sie im Frühjahr 2015 nicht als Grundschullehrerin angenommen worden. Die Argumentation des Gerichts ist jedoch alles andere als überzeugend. Es ist befremdlich, wenn in der Entscheidung zur Begründung der Verfassungsgemäßheit des Gesetzes ausführt wird, dieses behandle ja alle Religionen gleich. Hierbei wird der Problemschwerpunkt einer Untersagung von religiösen Symbolen gänzlich verfehlt. Ein pauschales Verbot ist gerade nach dem Verdikt des Bundesverfassungsgerichts mit der Verfassung, konkret mit der Religionsfreiheit, nicht vereinbar – unabhängig davon, ob nur eine oder alle religiösen Symbole betroffen sind. Der Verweis auf eine gleichbehandelnde Rechtslage bedeutet letztlich ja nur, dass die Regelung alle Religionen bzw. religiösen Bekundungen der gleichen verfassungswidrigen Behandlung unterzieht.

Zudem sind trotz der Behauptung der Gleichbehandlung aller Religionen durch die Regelung faktisch ausschließlich muslimische Frauen, die aus religiösen Gründen ein Kopftuch tragen, betroffen. Solch eine mittelbare Diskriminierung ist nicht nur wegen der Religion, sondern auch wegen des Geschlechts mit dem Gleichheitssatz der Verfassung und dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz nicht vereinbar.

Gleichzeitig stellt das Gesetz ein weitreichendes Berufsverbot für muslimische Lehrerinnen mit Kopftuch dar. Dieses Dilemmas scheint sich auch das Gericht bewusst zu sein, wenn es hervorhebt, dass das Verbot religiöser Bekleidung nicht für die Lehrkräfte an berufsbildenden Schulen gelte – freilich nicht mehr als ein Trostpflaster, wenn vor Augen geführt wird, dass kopftuchtragende Lehrerinnen aus dem Großteil der Lehrberufe wegen eines verfassungswidrigen Gesetzes ausgeschlossen bleiben.