Es geschah im Dikwa-Flüchtlingslager im Norden Nigerias, an einem frühen Dienstagmorgen: Inmitten der Essensausgabe zündeten zwei junge Frauen ihre Sprengstoffgürtel und töteten mehr als 50 Menschen. Boko Haram, die islamistische Terrorsekte, soll die Frauen für die Bluttat ausgerüstet und losgeschickt haben.
Erst danach wurde klar, dass die Attacke Anfang Februar noch schlimmer hätte enden können: Eine weitere Teenagerin hatte es mit der Angst zu tun bekommen und brachte ihren Sprengstoffgürtel nicht zur Explosion. Sie habe gewusst, dass sie viele Menschen töten werde, sagte sie Helfern danach. Außerdem habe sie enge Familienmitglieder unter den 50.000 Flüchtlingen in dem Lager im Bundesstaat Borno erkannt. Die habe sie verschonen wollen.
Das Mädchen, das seine Bombe nicht zündete, war offenbar wie Hunderte andere Frauen und Mädchen zuvor bei Boko Haram in Geiselhaft - verschleppt von ruchlosen Fanatikern, die seit bald sieben Jahren für einen islamischen Staat im Nordosten Nigerias kämpfen. Mindestens 17.000 Menschen starben bislang, mehr als 2,5 Millionen wurden vertrieben, Abertausende entführt.
Erst Geisel, dann willenlose Mörderin?
Durch Interviews mit geflohenen Frauen ist bekannt, dass die Islamisten Frauen als Sexsklavinnen halten und viele dadurch schwanger werden. Die Opfer berichteten der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch von Sklavenarbeit, von Zwangsheiraten und davon, dass sie als Christinnen zum Islam konvertieren mussten.
Aber wurden diese Frauen deshalb auch zu willenlosen Mörderinnen?
Sicher ist, dass Frauen für die Terrorgruppe als lebende Bomben seit Jahren attraktiv sind. 39 von 89 Selbstmordanschlägen in Nigeria im vergangenen Jahr wurden von Frauen verübt, ermittelte das Kinderhilfswerk Unicef.
Anfangs gelangten Frauen noch besonders leicht nah an große Menschengruppen und konnten so effektiver töten. Inzwischen warnen die Sicherheitskräfte vor ihnen. Die Armee erklärt, oft gäben sich Attentäterinnen als streng gläubig aus und bäten um Wasser für religiöse Waschungen. Auch von Kindern, die sich in Boko Harams Namen in die Luft sprengten, ist immer wieder die Rede.
Was bislang niemand genau beantworten kann: Warum tun Frauen und Kinder das?
Flüchtlinge im benachbarten Kamerun, die Boko Haram entkommen waren, erzählten der "New York Times" von Bombentrainings. Boko Haram habe Geiseln darin unterrichtet, wie man Selbstmordattentate durchführt. Zum Beispiel sei es effektiver, sich beim Zünden der Bombe hinter die Opfer zu stellen, weil die dann schneller stürben und nicht leiden müssten. Das erklärten die Extremisten einer 47-Jährigen, die sich der "NYT" offenbarte.
Tochter als Attentäterin an Boko Haram "gespendet"
Dazu würde auch passen, dass die Beinahe-Attentäterin von Dikwa eine Geisel gewesen sein soll. Fragen kann man die Teenagerin das nicht. Sie sitzt zwei Monate nach ihrer abgebrochenen Selbstmordmission weiterhin in Militärgewahrsam.
Mausi Segun, Rechercheurin für Human Rights Watch in Nigeria, glaubt nicht, dass es sich bei den meisten Attentäterinnen um Ex-Geiseln handelt. Eher schon seien es weibliche Verwandte von Boko-Haram-Mitgliedern. Im ländlichen Norden träfen Frauen häufig keine eigenen Entscheidungen über ihr Leben.
Ein Mädchen, das 2015 ebenfalls in letzter Minute von einem Selbstmordanschlag zurückschreckte, hatte ausgesagt, ihr Vater habe sie an Boko Haram "gespendet". Er habe ihr erklärt, sie müsse einen Auftrag ausführen, ihren letzte Auftrag auf Erden. Das Mädchen sagte, es habe sich wehren wollen. Aber eine junge Frau, die sich weigerte, sei halb eingegraben und gesteinigt worden. Darum habe auch sie schließlich zugestimmt.
Vorstellbar sei auch, dass sich Frauen genau wie Männer "aus religiösen oder politischen Motiven selbst dazu melden, weil sie etwas gegen die Regierung haben, oder gegen Menschen in ihrer Umgebung", sagt Segun.
Boko Haram und das Militär hinterlassen verbrannte Erde
Welche Theorie auch stimmen mag - wegen der Berichte über mordende Ex-Geiseln kommen für die Entführungsopfer zum Trauma auch noch Verachtung und Misstrauen hinzu. Als vermeintliche Boko-Haram-Ehefrauen wird ihnen unterstellt, durch Gehirnwäsche selbst zu Anhängerinnen der Terrorgruppe geworden zu sein. Die hohe Zahl der Selbstmordattentäterinnen trägt zu der Verunsicherung noch bei.
Obendrein ist der Umgang des Militärs mit den Opfern fragwürdig: Wer freikommt, wird nach einem Verhör oft einfach am Straßenrand ausgesetzt oder in ein Flüchtlingslager gebracht. Wer sich zu seinem früheren Zuhause durchschlägt, findet das Heimatdorf oft in Schutt und Asche. Das Militär brennt auf Verdacht auch Häuser nieder, die mutmaßlichen Sympathisanten der Islamisten gehören. Auch die Terroristen hinterlassen vielerorts verbrannte Erde.
Dass Boko Haram Frauen im großen Stil kidnappt, wurde spätestens vor genau zwei Jahren weltweit bekannt: In der Nacht auf den 15. April 2014 stürmte ein Terrorkommando das Internat der Chibok Secondary School und entführte 276 Schülerinnen. Die weltweite Kampagne "Bring Back Our Girls" brachte dem Thema viel Aufmerksamkeit, geholfen hat sie weiter nicht: Heute, zwei Jahre danach, sind 219 der Chibok-Mädchen noch immer vermisst. Nach Angaben des US-Senders CNN gibt es jetzt von einigen von ihnen ein "Lebenszeichen" - in einem Video sind sie verschleiert zu sehen.
Sechs Monate danach verschleppten die Extremisten außerdem rund 300 Grundschüler aus der Stadt Damasak nahe der Grenze zum Niger. Von den Kindergeiseln gibt es bis heute kein Lebenszeichen. Es wird vermutet, sie könnten, wie auch die Mädchen von Chibok, versklavt oder verkauft worden sein.
source : spiegel
Samstag
16 April 2016
07:39:11
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Die Terrorgruppe Boko Haram verschleppt und mordet, sie macht Frauen zu Sklavinnen, einige sogar zu Selbstmordattentäterinnen. Selbst für jene, die fliehen können, endet das Martyrium nicht.