Viele Muslime missverstehen den Islam als Regelkatalog, als gigantische Tabelle: Jede erdenkliche Tat besitzt eine Bewertung, das eigene Leben besteht aus einer Folge von Taten und abgerechnet wird am Jüngsten Tag.
An diesem Tag berechnet ein Algorithmus die Distanz zwischen der eigenen Tatmatrix und der Idealmatrix, dem Regelkatalog, und das Resultat bestimmt das Jenseitsschicksal. Je kleiner der Abstand ausfällt, desto angenehmer wird sich das jenseitige Leben gestalten. Die Idealmatrix eruieren die Mardschas aus Qur’an und Überlieferungen, und Islam bedeutet für jeden Einzelnen, möglichst nicht von ihr abzuweichen. Damit ist der Islam erklärt – genauer: der Trivial-Islam.
Der Vorteil des Trivial-Islams ist seine Schlichtheit, angenehm den Feinden und den Salafisten. Die Feinde schwadronieren von der Einführung der Scharia im Westen, die Salafisten vom „Islam in 30 Sekunden“ – beide berufen sich auf den Trivial-Islam. Dieser „Islam“ begründet keine Philosophie des Lebens, keine Rechtleitung, keine Erkenntnis, befiehlt ein gedankenloses Befolgen der Idealmatrix, ohne Bewusstsein.
Das muss scheitern, aus mindestens zwei Gründen: Erstens ist diese Matrix wesentlich komplexer, als der Trivial-Islam vorgibt. Jeder Umstand, jede Person, jede Zeit besitzt ihre eigenen Erfordernisse. Wadschib (Pflicht) kann je nach Parametern zu Haram werden und umgekehrt. So ist das Ritualgebet eine religiöse Pflicht, seine Verrichtung ist aber verboten, wenn anderem Vorrang gewährt werden muss; etwa einem Kind, das sich die Hand verbrannt hat. Und Schweinefleisch zu essen, kann in einer Notlage zur Pflicht werden.
Ein Islamverständnis ohne die dem Regelwerk unterliegende und diese begründende Philosophie wird eine Gesellschaft dahingehend abirren lassen, Schädliches oder nur eingeschränkt Erlaubtes als Normalitäten anzuerkennen, beispielsweise Scheidungen und Mehrehen. Ohne den Kern des Islam wird dieses Verständnis darin münden, dass man das Regelwerk missachtet, sich davon abwendet und den Islam verkommen lässt – wie die Geschichte bezeugt.
Zweitens ist die Umsetzung des Regelwerks im Trivial-Islam sogar dann in der breiten Gesellschaft unmöglich, falls diese individuellen Umstände nicht existierten. In der gottgegebenen Natur des Menschen (Fitra) ist das Streben nach dem Ziel der eigenen Existenz angelegt – und das ist nicht das Befolgen eines Regelwerks als Selbstzweck. Daher wird die Fitra einen solchen „Islam“ ablehnen, er wird ihr zurecht unattraktiv erscheinen – auch dies ist oft zu bezeugen.
Spiritualität als Ziel des Lebens
Was ist Sinn und Ziel des Lebens, unserer Schöpfung? Es ist das freie Streben nach Gott (swt.), seine Liebe zu erfahren, von seiner Gnade erfüllt zu werden:
„Und wenn dein Herr gewollt hätte, hätte Er die Menschen zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. Aber sie sind immer noch uneins, außer denen, denen dein Herr Gnade erwies. Und dafür hat Er sie erschaffen.“ (11:119)
Gott schenkt dem Menschen diese erhabene Gnade, die unter allen Geschöpfen allein der Mensch empfing; die Möglichkeit der größten Nähe zu seinem Schöpfer:
„Sprich: Ich bin ja nur ein Mensch wie ihr; mir wird offenbart, dass euer Gott ein einziger Gott ist. Wer nun auf die Begegnung mit seinem Herrn hofft, der soll gute Werke tun und bei der Anbetung seines Herrn (Ihm) niemanden beigesellen.“ (18:110)
„Die Gottesehrfürchtigen werden in Gärten und an Bächen sein, auf einem wahrhaftigen Sitzplatz, bei einem mächtigen König.“ (54:54-55)
Das Streben nach diesem Schöpfungsziel fernab des Glitzers des vergänglichen Diesseits bezeichnen wir als „Spiritualität“. Schon die Erkenntnis des Schöpfungsziels erhebt die Spiritualität über den Trivial-Islam. Was aber ist Spiritualität in der Praxis, was sind seine Merkmale und Ausprägungen, und wie erwecken wir unsere eigene Spiritualität zum Leben?
Was ist Spiritualität – und was nicht?
Zunächst grenzen wir die Spiritualität von jenen Schein-Spiritualitäten ab, die oftmals mit ihr verwechselt werden. Das sind vor allem zwei: spirituelle Kräfte und spirituell anmutende Gefühle.
So faszinierend die vielen spirituellen „übernatürlichen“ Kräfte sein mögen, über die in den Biografien großer Mystiker berichtet wird – beispielsweise liegen zu Ayatullah Bahdschat und Radschab Ali entsprechende Werke auf Deutsch vor –, so irreführend können sie sein. Wenn man Inhaber dieser Kräfte, wie den Einblick ins Verborgene, „Falten der Erde“ (auch bekannt als „teleportieren“), Laufen über Wasser, Verwandeln von Stein in Gold, Sprechen mit Verstorbenen uvm., allein aufgrund ihrer spirituellen Fähigkeiten als wahrhaftige Gottnahe ansieht, ihren Lehren Gehör schenkt und ihre Interpretationen als überlegen anerkennt, so können diese Menschen einen ins Feuer der Gottesentfernung führen. Tatsächlich mögen sie Satane der Menschen sein. Diese Kräfte existieren, sie sind real, aber kein Beweis für Spiritualität, ihre Inhaber können abgeirrte Menschen sein, die danach trachten, andere mitzuziehen – oder auch wahrhaftige Gottsuchende, wie die beiden erwähnten, dies lässt sich nicht an ihren Kräften bemessen.
Das schöne Gefühl beim Verlesen von Bittgebeten, die angenehme Empfindung einer bewegenden Rezitation ist ebenso wenig für sich stehend ein Zeichen der Spiritualität. Man mag dies empfinden und sich immer weiter von Gott entfernen. Westliche Psychologen konnten vergleichbare Empfindungen mittels Magnetfeldern in Probanden erzeugen, welche sie als „religiöses Erlebnis“ missdeuteten – ein Beweis für die Forscher, dass Religion nichts als ein Hirngespinst sei, im wahrsten Sinne des Wortes.
Wahre Spiritualität dagegen ist das Streben nach der Nähe Gottes, in seiner Vollkommenheit derart, dass nur noch Gott handelt und Gott spricht, und nicht mehr das „Ich“ in Entfernung Gottes. Im Neuen Testament kündigt Jesus (a.) seinen Jüngern einen solchen Menschen an:
„Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr könnt es jetzt nicht ertragen. Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, wird er euch in alle Wahrheit leiten. Denn er wird nicht aus sich selber reden; sondern was er hören wird, das wird er reden, und was zukünftig ist, wird er euch verkündigen.“ (Johannesevangelium, 16:12-13)
Dieser Geist der Wahrheit ist der Gesandte Gottes, Muhammad (s.). Der heilige Qur’an beschreibt ihn folgendermaßen:
„Und unter ihnen gibt es welche, die dem Propheten Leid zufügen und sagen: Er ist nur ein Ohr. Sprich: Ein Ohr zum Guten für euch. Er glaubt an Gott und glaubt den Gläubigen, und er ist eine Gnade für die von euch, die gläubig sind.“ (9:61)
„Euer Gefährte geht nicht irre und ist nicht einem Irrtum erlegen, Und er redet nicht aus eigener Neigung. Er ist nichts anderes als eine offenbarte Offenbarung. Belehrt hat ihn einer, der starke Kräfte besitzt.“ (53:2-5)
Er ist unser vollkommenes Vorbild der menschlichen Spiritualität, nach der alle Menschen streben, gleich welcher Herkunft und Religion. Traurigerweise verirren sich so viele zu fernöstlichen Scheinspiritualitäten, zu Satanen mit spirituellen Kräften, zu New-Age Religionskarikaturen oder zur Verleugnung der Spiritualität und des Schöpfers im wissenschaftlich verklärten „Neuen Atheismus“.
Wie Spiritualität erlangen?
Wenn wir danach fragen, welche Praxis im Leben uns Gott annähert und welche uns entfernt, dann schließt sich der Kreis zu Halal und Haram: Es gibt auf dem Wege zur Nähe Gottes, zur Spiritualität keine Abkürzung. Dieser Weg führt an allererster Stelle über die Gebote und Verbote, die Verpflichtungen und die Enthaltungen, erst an zweiter Stelle über Empfohlenes. Das erste Lehrbuch der Spiritualität ist das Rechtswerk des Mardschas. Nicht im Sinne des Trivial-Islams, sondern als Mittel der Selbstreinigung, um für die allgegenwärtige Liebe Gottes empfänglich zu sein.
Weiterhin ist es unabdingbar, dass wir zur Weisheit der Gebote und Verbote gelangen, zur Philosophie des Islam, welche dem Regelwerk unterliegt. Erst diese Einsichten werden es uns erlauben, auf dem Wege Gottes voranzuschreiten, die Kraft aufzubringen, Halal und Haram in uns zu verwirklichen, somit unsere Spiritualität zu entwickeln, deren Gottesnähe weitere Einsichten in Seine gnadenreiche Religion mit sich bringt. Das Verhältnis der Erkenntnis der Philosophie des Islam, ihrer Umsetzung im Sinne der Gebote und der Spiritualität bildet einen selbstverstärkenden Regelkreis der Führung ins Licht:
„Gott ist der Waliy (Führer) derer, die glauben; Er führt sie aus den Finsternissen hinaus ins Licht.“ (2:257)
Dieser Regelkreis verstärkt sich genauso umgekehrt, sich von Gott entfernend: Wenn man die Philosophie des Islam beiseitelässt, so wird man in der Umsetzung von Halal und Haram nachlässig, dies wird die Spiritualität schwächen, was wiederum schon gewonnene Einsichten entrückt. So entfernt man sich von Gott und wird in die Dunkelheiten gezogen, wie wir es oft bei Menschen beobachten müssen, die Halal und Haram ignorieren, während sie glauben, den Islam durchdrungen zu haben, und ebenso bei Menschen, welche Halal und Haram propagieren und jedes Islamverständnis missen lassen.
„Diejenigen, die (die Wahrheit) verdecken, haben die Götzen zu Führern; sie führen sie aus dem Licht hinaus in die Finsternisse. Das sind die Gefährten des Feuers, sie werden darin ewig weilen.“ (2:257)
O Gott, wir erflehen deine Gnade, uns im Kampf gegen unser Ich, welches uns diesen Regelkreis in schädigender Weise durchlaufen lassen will, zu stärken und uns so zu entwickeln, wie du uns liebst – auf dass wir eine Gemeinschaft formen mögen, wie Scheich Hamza Sodagar sie beschreibt (sinngemäß zitiert):
Vielleicht sind wir bereits eine Gemeinschaft bewusster Muslime, die versuchen, die Gebote einzuhalten, die ein politisches Verständnis besitzen, die sich engagieren und keine Opfer scheuen, die Unterdrücker anzuklagen und die Vertreter der Wahrheit zu unterstützen. Aber das genügt nicht! Was wir darüber hinaus erstreben, ist eine Gemeinschaft der Gottsuchenden zu formen. Gottsuchende, deren Seelen erzittern, wenn sie Gottes gedenken, und die in Tränen der Sehnsucht ausbrechen, wenn sie den heiligen Namen Gottes vernehmen.
„Wahrlich, die Gläubigen sind diejenigen, deren Herzen beben, wenn Gottes gedacht wird, und die in ihrem Glauben bestärkt werden, wenn ihnen Seine Ayas verlesen werden, und die auf ihren Herrn vertrauen.“ (8:2)
Dieser Artikel basiert im Wesentlichen auf einem Vortrag von Scheich Hamza Sodagar über Spiritualität, den ich unbedingt empfehle.
Quelle: offenkundiges.de