Wolfgang Hentrich kennt die Welt. Der Geiger hat als langjähriger Konzertmeister der Dresdner Philharmonie hat auf den besten Konzertpodien der Welt gespielt, in der New Yorker Carnegie Hall genauso wie im Wiener Musikverein oder der Suntory Hall Tokios. Sein Publikum ist international. Aber bei keinem Auftritt dürften derart viele verschiedene Ethnien im Publikum gesessen haben wie bei einem Konzert im September 2015 in Dresden. Hentrich trat damals mit dem Philharmonischen Kammerorchester im Zeltlager für Flüchtlinge auf der Bremer Straße auf. Es war Ende Juli in Windeseile errichtet worden und hatte zeitweilig rund 1000 Bewohner.
Isolde Matkey, die als Kulturmanagerin seit Sommer 2015 Auftritte von Künstlern vor Flüchtlingen organisiert, erinnert sich genau an den denkwürdigen Auftritt. „Sie spielten aus den „Vier Jahreszeiten“ von Vivaldi und bekannte Stücke wie Mozarts „Kleine Nachtmusik“. Die Kinder standen dicht gedrängt gleich an der Bühne. Da war eine Stille im Lager, eine magische Stimmung“, sagt die frühere Dramaturgin der Semperoper. Hentrich habe später mit seiner Tochter auch noch im Kinderzelt gespielt. Nachher gab er seine wertvolle Geige aus der Hand, weil die Neugier der kleinen Zuhörer so groß war.
Die Idee für einen regelmäßigen Spielbetrieb im Flüchtlingscamp stammt von Matkey und wird unter dem Dach ihrer Agentur tristan production umgesetzt. Zunächst half sie beim Deutschen Roten Kreuz Kleiderspenden zu verteilen: „Als ich das erste Mal selbst im Lager war, kamen mir die Tränen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass so etwas in Deutschland möglich ist.“ Die Flüchtlinge saßen damals auf einem Schotter-Fußboden und aßen. Matkey wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, dass man den Untergrund bewusst so aufgeschüttet hatte, um nach Regen Überschwemmungen zu verhindern.
„Wir brauchten zuerst einen Fußboden, nicht nur für die Künstler, sondern vor allem für die Flüchtlinge selbst. Denn außer den Zelten, in denen sie wohnten, gab es keinen Versammlungsplatz“, berichtet die Managerin. Techniker des Jungen Theaters der Generation und des Festspielhauses Hellerau halfen und verlegten einen hölzernen Boden. Matkey hatte keine Probleme, Mitstreiter zu finden. Viele Dresdner Künstler wollten sich engagieren, auf ihre Weise einen Kontrapunkt zur Ablehnung der Flüchtlinge in Teilen der Bevölkerung setzen. Puppenspieler Detlef Heinichen spielte als Erster noch auf Schotter: „Die Kinder haben uns regelrecht überrannt“, erinnert sich Matkey.
Auch der Autor und Kabarettist Philipp Schaller war von Anfang an dabei. Seither zieht er mit Isolde Matkey und Anne Jung die Fäden im ehrenamtlichen Theatercampus. Er habe seinem Frust über die islam– und ausländerfeindliche Pegida-Bewegung etwas entgegensetzen wollen, sagt Schaller: „Ich wollte aber nicht auch noch eine Veranstaltung gegen Rechts oder irgendein Statement gegen andere machen, sondern ich wünschte mir, dass die Flüchtlinge in der damals noch völlig überfüllten Dresdner Zeltstadt etwas erleben können, was nur für sie ist. Was nichts mit Behörden, Asyl und den damaligen Zuständen im Camp zu tun hat, sondern eine Schönheit und einen Sinn in sich hat.“
Seine ersten Besuche in der Zeltstadt hätten sehr gegensätzliche Eindrücke hinterlassen, verrät Schaller. Zum einen habe er hoffnungslos überfüllte Zelte und sich fremde Menschen auf engstem Raum gesehen: „Andererseits schien die Sonne, viele Menschen saßen vor den Zelten, spielten Karten oder hörten Musik. Für mich hatte das etwas vollkommen Surreales, da es mich auch an Ferienlager erinnerte. Seltsam war das Gefühl, nach zwei Stunden Camp wieder nach Hause gehen zu können, in unsere 5-Raum-Wohnung, mit Gäste-Klo und Beamer- Leinwand. Das war absurd.“ Doch auch an konkrete Gesichter kann sich der Künstler erinnern, viele Menschen lernte er im Camp kennen.
„Da gab es den jungen Tierarztstudenten aus Aleppo, der mehrere Monate zu Fuß unterwegs war und nun hoffte, in Deutschland weiter studieren zu können. Radwan, ein Bildhauer und Möbelrestaurator, ebenfalls aus Aleppo, der mir Bilder seiner Kunstwerke zeigte, die er alle zurückgelassen hatte, und der nun unbedingt hier neu anfangen wollte“, erzählt Schaller. Künstlerisch sei das eindruckvollste Erlebnis das Konzert des Philharmonischen Kammerorchesters gewesen: 15 Musiker in gut sitzenden Anzügen und etwa 100 Flüchtlinge, die mit übergeworfenen Decken und in Flipflops den „Vier Jahreszeiten“ zuhörten: „Das waren Bilder, die ich nie vergessen werde.“
Auch eine andere Szene hat sich Schaller eingeprägt. Im Oktober spielte das Duo „Land Über“ mit dem Cellisten Benni Gerlach und dem Saxofonisten Karl Helbig: „Die Stimmung war unruhig, Männer unterhielten sich über Reihen hinweg, manche telefonierten, während die beiden Musiker tapfer weiterspielten.“ Doch dann sei zwischen zwei Stücken ein älterer Mann in der ersten Reihe aufgestanden und habe eine klare Ansage gemacht: „Ich kann kein Arabisch, aber ihn habe ich verstanden: Er wolle das Konzert genießen, und bat aus Respekt gegenüber den Künstlern die Klappe zu halten oder raus zu gehen. Dann entschuldigte er sich bei den Musikern.“
Bei den „Land Über“-Musiker hat die Begegnung mit den Flüchtlingen kreative Impulse ausgelöst: „Unsere neue CD ist unter den Eindrücken der Flüchtlingsbilder entstanden: Wir bekennen uns auch dazu, dass wir beim Komponieren immer wieder Gedanken hatten wie „Was geht in Menschen vor, die alles, wirklich alles verlassen mussten?“. Dadurch ist unsere Musik etwas ernster geworden, nachdenklicher“, berichtet der Cellist. Beim Auftritt im Theatercampus seien sie mit viel Dankbarkeit der Zuhörer belohnt worden.
„Auch für mich war der treibende Impuls, der unvorstellbaren Hässlichkeit und Tristesse im Camp Schönheit in Form von Kunst entgegensetzen zu wollen“, sagt Anne Jung. Als Kulturmanagerin hat sie die verbindende Kraft von Musik über alle Grenzen hinweg schon oft erlebt. Im Flüchtlingslager war es nicht anders, aber besonders eindrücklich. Sie sah, „wie Musik Menschen erst entspannte, dann ihre Herzen öffnete und Leid vergessen ließ“: „Es war wirklich wunderschön und magisch.“ Einer der Musiker habe sie später angesprochen und spontan eine Einliegerwohnung in seinem Haus Flüchtlingen zur Verfügung gestellt. Inzwischen wohnt dort eine Familie aus Syrien.
Als die Zeltstadt für Flüchtlinge im Herbst abgebaut wurde, zog auch der Theatercampus um. Seitdem residiert er in der Erstaufnahme in der Hamburger Straße, dem früheren Technischen Rathaus der Stadt Dresden. Jeden Donnerstag gibt es in einem größeren Kellerraum Auftritte, zunächst für Kinder, dann für Erwachsene. Auch ein Mal-Workshop für Mädchen und Jungen unterbricht einmal pro Woche den schwierigen Alltag. Manchmal kommt es im Anschluss an die Konzerte noch zu Gesprächen. Die Organisatoren wollen das aber nicht verordnen.
Unlängst war dort die Gruppe Wirbeley zu Gast, die Musik aus aller Herren Länder spielt und damit auch dem Publikum im Camp ein Lächeln in die Gesichter zauberte. Jung hat aber auch andere Gefühlsregungen erlebt: „Als sie ein altes Klagelied aus Ephesus spielten, das die Leiden, die ein Krieg mit sich bringt, besingt, flossen auch etliche Tränen. Und einige junge Männer waren plötzlich ganz intensiv mit ihren Handys beschäftigt, um das zu verbergen.“ Danach habe die Gruppe aber ein deftiges bayrisches Lied zum Besten gegeben: „Selbst mit noch feuchten Augen wurde gern mitgeschunkelt.“
Anne Jung sind viele Flüchtlinge ans Herz gewachsen. Manchmal hat sie nach Auftritten noch Tee mit ihnen getrunken, Fragen beantwortet, Geschichten angehört und unzählige Fotos angeschaut. Daraus entstand eine neue Idee – die Flucht dieser Menschen zu dokumentieren, aber auch ihre Hoffnungen und Sehnsüchte. „Zuerst hatte ich den Impuls, möglichst viele Geschichten aufzuschreiben, inzwischen wähle ich aus und habe erfahren, dass man neben viel Zeit auch viel Vertrauen braucht.“ Daraus seien inzwischen viele Freundschaften entstanden. Jung schweben nun ein Buch und eine Ausstellung zu Flüchtlingen vor.
Der Theatercampus möchte den Geflüchteten die gesamte Vielfalt kultureller Traditionen nahe bringen – von der Pantomime über Tanz und Theater bis hin zur klassischen Musik. „Über neue Künstler und Beiträge für den Theatercampus freuen wir uns immer“, sagt Matkey. Weitere Ideen gibt es schon. Das Dresdner Kulturamt bewilligte eine Förderung, auch Auftritte in anderen Flüchtlingsquartieren sind im Gespräch. Tänzerin Katja Erfurth möchte einen Bewegungsworkshop für Mädchen und Frauen anbieten. Einen Zirkus-Workshop für Kinder gab es schon, unlängst hatte das erste Programm der kleinen Artisten und Zauberkünstler aus vielen Ländern Premiere.
Anne Jung betrachtet die Arbeit im Camp nicht als Einbahnstraße. „Sie gibt mir auch viel zurück, denn sie erlöst mich von dem Gefühl der Ohnmacht angesichts all des Leides und der Kriege, auf die ich kaum Einfluss habe. Ich bin dankbar für mein behütetes Leben und teile dieses gern mit neuen Nachbarn, Mitbürgern, Kollegen und Freunden.“