Als Muslim wurde ich in der Schule und anderswo häufig gefragt, ob ich in die Hölle käme, wenn ich Schweinefleisch essen würde. Einige kreativere Köpfe fragten tatsächlich auch, ob ich das ewige Feuer zu erleiden hätte, sollte mir jemand Schweinefleisch zum Mittagessen unterjubeln.
Diese Fragen empfand ich im besten Fall als nervig, im schlimmsten Fall als verspottend. Zurückblickend habe ich etwas mehr Verständnis. Natürlich interessiert den Menschen, weshalb etwas verboten ist. Sag dem Kind: „Du darfst das nicht“, und kaum, dass du zu Ende sprichst, kommt ein: „Warum?“
Eine einfache Kinderfrage also: Was ist die Wirkung einer unbewusst vollzogenen verbotenen Tat, also eines verborgenen Harams? Hat eine solche Tat überhaupt eine Wirkung? Wäre Gott nicht ganz schön ungerecht, wenn er uns für Dinge bestrafte, für die wir keine wirkliche Schuld tragen? So viel sei schon einmal gesagt: Zumindest für einen Laien ist es erstaunlich schwer, professionelle Gelehrtenmeinungen zu dieser Frage zu finden.
Eine Gelehrtenmeinung in Form einer Biografie: Radschab Ali – Elixier der Liebe
Ein großer islamischer Gelehrter aus der Islamischen Republik Iran, Ayatullah Muhammad Rayschahri, hat dieses Thema quasi „nebenbei“ auf eine ganz außergewöhnliche Art und Weise behandelt, nämlich in Form einer Biografie. Sie erzählt aus dem Leben eines einfachen Menschen, einem Schneider aus Teheran namens Radschab Ali, auch bekannt als Dschenabe Scheich. Der 1961 verstorbene Scheich war hoch geachtet für sein tiefes spirituelles, mystisches Wissen über Gott und die Menschen. Das vom Schneider immer wieder gepredigte „Geheimnis“ war es, alle Dinge, die er tat, mit dem Bewusstsein zu verrichten, dass er damit die Liebe Gottes gewinnen möge. Diese Nähe zu Gott versah ihn mit außergewöhnlichen Kenntnissen und Fähigkeiten, von denen sein Einblick in die metaphysische und verborgene Welt besonders bemerkenswert war. Er sah dadurch die spirituellen Ursachen und Wirkungen von Dingen und Beziehungen, die anderen verborgen blieben.
Ursache und Wirkung in der verborgenen Welt an Beispielen aus den Berichten über Radschab Ali
Die Biografie erzählt von vielen Begebenheiten, in denen der Dschenabe Scheich erkennt, wie die Taten oder auch nur Gedanken seiner Mitmenschen deren spirituelle Verfassung beeinflussen, auch ohne, dass die Personen sich dieser Zusammenhänge bewusst sind. Er berichtete seinen vielen Schülern, Anhängern und Besuchern von Ereignissen aus deren eigenen Leben, ohne diese miterlebt oder von ihnen gehört zu haben und beschrieb zugleich auch die spirituellen Folgen dieser Ereignisse. Einige dieser bemerkenswerten Berichte vom Dschenabe Scheich werden nachfolgend (stichpunktartig) vorgestellt.[1]
- Der Dschenabe Scheich wies eine kranke Frau an, das Herz ihres Kindes zurückzugewinnen, ihm ein kleines Geschenk zu machen und Gott um Vergebung zu bitten, damit ihre Krankheit geheilt werde. Zuvor hatte er in seiner spirituellen Vertiefung gesehen, dass die Mutter das Kind derart geschlagen hatte, dass ihm die Luft wegblieb.
- Ein Reisverkäufer kam zum Dschenabe Scheich und beschwerte sich, dass sein Geschäft plötzlich massiv eingebrochen war. Radschab Ali entgegnete nach kurzem Besinnen, dass der Verkäufer selbst schuld sei, da er seine Kunden wegschicke. Auf die Beteuerung des Reisverkäufers hin, dass er keine Kunden wegschicke, erinnerte Radschab Ali ihn daran, dass er einen Sayyid[2], der drei Tage auf Kredit bei ihm speiste, am letzten Tag abwies. Der Reisverkäufer bestätigte dies, änderte seine Einstellung gegenüber Kreditkäufen und sein Geschäft besserte sich anschließend.
- In mehreren weiteren Fällen wenden sich Personen mit finanziellen Schwierigkeiten an den Dschenabe Scheich. Radschab Ali erzählt den Ratsuchenden daraufhin im Detail aus Ereignissen, die zwischen ihnen selbst und weiteren Personen (häufig nahe Verwandte) vorgefallen waren. Diese Ereignisse haben dabei, oberflächlich betrachtet, nichts mit dem eigentlichen finanziellen Problem der Fragenden zu tun. Die ungerechte Behandlung oder Kränkung, insbesondere von nahen Verwandten, wirkten sich in diesen Fällen aber in der metaphysischen Welt unmittelbar auf den Lebensunterhalt (risq) der Ratsuchenden aus.
- Einige Anhänger des Scheichs baten ihn, für sie in die verborgene Welt zu blicken, damit er ihnen den Zustand verstorbener Elternteile mitteile. In zwei Ereignissen beschreibt Radschab Ali, nachdem er diesen Einblick erhalten hat, den Zustand der Verstorbenen als leidend und benennt auch detailliert die Ursachen für dieses Leid. Dieses ging auf Handlungen aus deren Lebenszeit zurück. So litt ein verstorbener Vater noch immer an einem Unrecht, das er seiner Ehefrau angetan hatte. Erst als sein Sohn dieses vom Scheich erfuhr, sprach er auf seine Mutter ein, stimmte sie um und sein Vater hatte Ruhe.
- Auch vernahm der Schneider die spirituellen Zustände von Gegenständen. So sah er beispielsweise lauter Rauch und Feuer aus einem Teppich strömen, der seinem Besitzer durch Erpressung genommen wurde.
- In mehreren Berichten erzählt der Autor der Biografie, wie der Scheich Tierquälereien für verheerende Unglücke im Leben der Täter verantwortlich macht. Dabei hängen auch in diesen Fällen die Unglücke mit der eigentlichen Qual des Tieres oberflächlich nicht direkt zusammen.
- Der letzte hier aufgeführte Fall kommt der anfangs genannten Problematik am nächsten und wird deshalb in seiner Gänze direkt zitiert: „Einer der Anhänger des Scheichs erzählte, dass er nach einem Essen seinen spirituellen Zustand nicht mehr erreichen konnte. Also ging er zum Scheich und bat ihn um Rat. Der Scheich sagte ihm: »Der Kebab (gegrilltes Fleisch), den du gegessen hast, wurde von dem und dem Geschäftsmann bezahlt, der etwas an sich gerissen hat, was einer alten Frau gehörte.«[3]
Allen Berichten ist gemeinsam, dass den Menschen Dinge widerfahren, die auf Ursachen zurückgehen, bei denen die Betroffenen sie nicht vermutet haben. Der Islam lehrt, dass neben den physikalischen und allgemein materiellen Gesetzen von Ursache und Wirkung auch Gesetzmäßigkeiten in der metaphysischen bzw. spirituellen Welt herrschen, welche sich direkt auf unsere materielle Welt auswirken. Und diese Beziehung ist wechselseitig: Andersherum beeinflussen auch weltliche Taten den spirituellen bzw. metaphysischen Zustand der Menschen. Die sinnliche und die metaphysische Welt stehen in einem engen, man kann fast sagen mechanischen Zusammenhang. Anders gesagt: Schaltet man an diesem oder jenem weltlichen Hebel, setzten sich im metaphysischen Bereich damit korrespondierende Mechanismen in Gang.
Und hier ist auch die Antwort auf die anfangs zitierte Frage zu suchen: Was habe ich nun eigentlich zu befürchten, wenn mir jemand, ohne mein Wissen Schweinefleisch zum Mahl unterjubelt? Genau weiß ich das ehrlich gesagt auch nicht. Das Speisen dieses verbotenen Gerichts wird aber, laut islamischer Lehrmeinung, gewiss spirituelle bzw. metaphysische Auswirkungen auf mich haben, höchstwahrscheinlich in Bereichen, in denen ich den Zusammenhang nicht einmal ahne. Die weltlichen und überweltlichen Naturgesetze sind nun einmal so gestrickt, dass jede Handlung eine bestimmte Folge hat. Auch wenn ich dabei religionsrechtlich keine Sünde begangen habe und entsprechend wegen dieser Sache auch nicht die ewige Qual zu befürchten habe, würde es mein Leben auf irgendeine Art beeinflussen, vermutlich zum Negativen hin. Die schwerwiegenden Probleme würde in dem Fall aber wohl die Person bekommen, die mir das verbotene Mahl angedreht hat, da sie Hebel betätigt hat, die deutlich bedrohlichere Mechanismen auslösen und die auf ihrer Seele lasten.
Die Biografie Scheich Radschab Alis von Ayatullah Muhammad Rayschahri ist unter dem deutschen Titel „Elixier der Liebe: Die mystische Welt des Radschab Ali“ 2015 im Verlag Eslamica erschienen und kann HIER bestellt werden.
[1] Ohne den dem Islam innewohnenden Glauben an eine metaphysische Welt, die über eigene Gesetzmäßigkeiten verfügt und die Einfluss auf die materielle Welt hat, werden die hier aufgeführten Berichte nicht besonders glaubwürdig sein. Die Diskussion dieser Thematik ist nicht Thema dieses Artikels, kann aber gerne in einem anderen Artikel angestoßen werden.
[2] Ein Nachkomme des Propheten Muhammads (s).
[3] Ayatullah Muhammad Rayschahri, Elixier der Liebe, deutsche Übersetzung vom Verlag Eslamica, S. 131.
Quelle : offenkundiges.de