Der nachfolgende Artikel untersucht ein immer häufiger zu beobachtendes Phänomen in der schiitischen Gemeinde unter islamisch-ethischen Gesichtspunkten. Es ist nicht die Intention des Autors, das Thema aus der Perspektive der islamischen Rechtswissenschaft zu bewerten. Bezüglich der Rechtsurteile einzelner Fragestellungen steht auf diversen Internetplattformen ausreichend Material zur Verfügung.
Die Anzahl der Menschen in Deutschland, die sich in den letzten Jahrzehnten eine Tätowierung stechen ließen, hat rapide zugenommen. Besonders die junge Generation findet immer größeren Gefallen an dieser perfiden Form der Körpermodifikation, die nicht selten in einer zügellosen und unkontrollierten Tattoo-Sucht ausartet.[1] Inzwischen trägt – laut einer repräsentativen Studie des Instituts für Demoskopie in Allensbach – fast jeder vierte 16- bis 29-Jährige in Deutschland eine Tätowierung am Körper, 46 Prozent vergnügen sich am Anblick.[2] Das dauerhafte Modifizieren des Körpers hat ganz unterschiedliche Beweggründe. Oftmals dient es dem Zweck der Individualität und Abgrenzung, dessen Befürworter darin ein Symbol der Zugehörigkeit zu einer elitären, sozialen Gruppe wahrnehmen. Zudem betrachten viele die eingestochenen Motive als Ausdruck von Schönheit, Kreativität und Lifestyle. Die beschädigende Körperkunst wird als ein Sinnbild der Stärke verstanden, während der dringliche Wunsch, den Körper langfristig zu verunstalten, nicht selten in eine Lebenseinstellung mündet.
Doch ist das Breitenphänomen derweil auch Teil der modernen schiitischen Jugendkultur. Immer mehr junge Schiiten unterziehen sich freiwillig der schmerzhaften Prozedur – ohne Bedenken über die langwierigen Folgeerscheinungen. Die teils giftigen und krebserregenden in den Tattoo-Farben enthaltenen Stoffe stören dabei die wenigsten, stattdessen wird eine scheinbare „Gesetzeslücke“ zu persönlichen Zwecken missbraucht und indes öffentlich zur Schau gestellt. Der Widerspruch zwischen der islamischen Pflicht zur Sittsamkeit und der schädlichen Außendarstellung jener Körperkunst wird dabei mit Rückgriff auf ein geltendes Rechtsurteil eines Vorbildes der Nachahmung (mardscha-ul-taqlid) kategorisch abgewiesen. Mehr noch wird die Nachlässigkeit in der individuellen Verantwortung gegenüber der nichtmuslimischen Gesellschaft auf den Gelehrten übertragen.
Viele Rechtsurteile sind der schiitischen Jugend gemeinhin bekannt. Doch überkommt einen unterdessen das Gefühl, als beschränkten sich die islamischen Prinzipien bei einem Teil jener schiitischen Jugend auf die Themenbereiche: Zeitehe, Tattoo und Tatbir[3]. Die ständige Beschäftigung mit diesen kontrovers diskutierten Themen nehmen maßlose Züge an, gleichzeitig misst man den unbestreitbaren und essenziellen Grundpfeilern der Religion nur eine Randbedeutung bei.
Befasst man sich mit dem Ursprung dieses extremen Körperkults, so geht die Geschichte bis in das alte Ägypten zurück, wo man die Körpermarkierung in Form einer mit Schmerzen verbundenen rituellen Zeremonie praktizierte. Im alten Rom brandmarkte man die Sklaven und Kriegsgefangenen mit Tätowierungen, Verbrechern wurden ihre kriminellen Handlungen an die Stirn gestochen – eine Praktik, die das NS-Regime in der Geschichte der Neuzeit gegen die KZ-Häftlinge erneut etablierte. Sie klassifizierten die Insassen der Konzentrationslager durch Eintätowierungen am Körper nach Ethnie, religiöser Ausrichtung und politischer Zugehörigkeit.[4] Es ist folglich nicht verwunderlich, dass die Punk-Bewegung und diverse abstruse Musikrichtungen an der Spitze die Tätowierung als Symbol des Protests, der Rebellion und als Zeichen der sozialen Integration zu nutzen pflegten. Die Professionalisierung jener modernen Körperbemalung nahm schließlich in den 90er Jahren ihre Anfänge in den USA[5] und schwappte binnen kürzester Zeit auf andere Kontinente über.
Dieser Handlungsweise bedient sich also nun der junge, moderne Schiit und bemerkt dabei nicht, wie er unwillkürlich dem US-amerikanischen Kulturimperialismus in die Hände spielt, während ein Teil seiner islamischen Identität schleichend eingeht. Er leistet der Expansion einer Kultur Vorschub, die sich durch radikalen Egoismus und der absoluten Hinwendung zum Materialismus kennzeichnet. Eine Kultur, die ganze Völkergruppen systematisch unterwandert, zerstört und unabhängige Staaten gewaltsam unterjochen möchte.[6] Eine Kultur, bei der das Ziel, die Dominanz des amerikanischen Imperialismus, alle Mittel heiligt und im glatten und krassen Widerspruch zur islamischen Weltanschauung steht, welche sich um eine friedliche Koexistenz unterschiedlicher Kulturen bemüht.
Doch sollte der Wahrheitssuchende nach Ansicht des Autors kein Pauschalurteil fällen. Eine differenzierte Betrachtungsweise des einzelnen Gegenstands ist vonnöten, um ein gerechtfertigtes Resultat über ein kontroverses Streitthema, wie das der Tätowierung, zu erlangen. Nicht jede westliche Neuerung ist pauschal als religionswidrig zu diffamieren und hemmend für die islamische Gesellschaft. Der Transfer kultureller Elemente kann sich überdies positiv auf die Entwicklung der islamischen Gesellschaft auswirken. Es besteht ein Kontrast zwischen dem Aufzwingen einer auf Schamlosigkeit, Konsumismus und Materialismus basierenden Lebensphilosophie des westlichen Kulturimperialismus und dem konstruktiven, fortschrittsfördernden Austausch unabhängiger Staaten und Staatengemeinschaften. Ersteres widerspricht dem Geist des Islams und ist folglich zu verwerfen.
Ein tätowiertes Imam Ali Schwert auf dem Oberarm degradiert den Betroffenen nicht unmittelbar zu einem sündhaften und niederträchtigen Muslim. Doch ist die Praktik weder aus ethischen Gesichtspunkten noch aus dem Blickwinkel der Rechtswissenschaft des Islams angeraten. Des Weiteren sollte jede Handlung (auch eine islamisch erlaubte), ehe sie in die Tat umgesetzt wird, einer strengen Prüfung durch die praktische Vernunft unterzogen und folglich objektiv beurteilt werden. Ist die Handlung auf dem individuellen Weg zur menschlichen Vervollkommnung schädlich, ist sie abzuweisen, ganz gleich, ob erlaubt oder verboten. Die öffentliche Zurschaustellung einer Körpermodifikation kann sich mehr noch destruktiv auf die gesamte schiitische Denkschule auswirken. Eine Schule, die den Gebrauch der menschlichen Vernunft ins Zentrum der Religion stellt und ihr die höchste Priorität einräumt, während sie den Menschen kraft eines vollkommenen, göttlichen Gesetzbuches zur Sittsamkeit und ethischem Verhalten ermahnt und seine innewohnenden Kräfte auf dem erhabenen Pfad der Wahrheit kanalisiert. Eine Denkschule, die den Anspruch erhebt, die menschliche Seele von ihren unanständigen Eigenschaften zu reinigen, die animalischen Ketten auf dem Weg der Veredelung zu durchbrechen und im gottgefälligen Herzen des Gläubigen den Baum der Rechtleitung zu pflanzen. Sofern der Gottesdiener sich an die göttlichen Urteile richtet und versucht, über den Tellerrand des Haram/Halal hinauszublicken, die Gefahren auf dem Weg der menschlichen Vervollkommnung zu erkennen, bewässert der unablässig Gebende[7] den Baum in seinem Herzen mit Einsicht und Weisheit, sodass sein Äußeres sein schönes Inneres zu spiegeln beginnt, ferner das göttliche Licht in seinem Herzen seiner individuellen und kollektiven Persönlichkeit Charakter und Stärke verleiht.
Es gilt mit Weitsicht zu handeln, die Moral als höchstes Gut zu wahren, um den göttlichen Frieden im Herzen zu erlangen. Das Potenzial wurde den Menschen in die Wiege gelegt. Seiner natürlichen Veranlagung folgend muss er sein Potenzial erkennen und infolgedessen entfalten. Dazu bedarf es keiner kuriosen Tätowierung der Auserwählten Gottes[8] auf den menschlichen Körper. Freilich genügt eine Tätowierung des edlen Charakters jener Auserkorenen im Herzen eines jeden von uns.
Quelle des Artikels: offenkundiges.de
[1] https://www.uni-marburg.de/fb21/schulpaed/institut/personal/rohr/ritual.pdf. Stand: 11.02.16.
[2] http://www.ifd-allensbach.de/uploads/tx_reportsndocs/PD_2014_12.pdf. Stand 11.02.16
[3] Eine Form der Selbstgeißelung, die von den Großgelehrten kategorisch abgelehnt wird. Weder ist sie ein Bestandteil der Trauerzeremonien noch hat sie ihren Ursprung bei dem Propheten Muhammad (s.) und seinen reinen Nachkommen. Dennoch bedienen sich einige wenige, schiitische Gruppierungen dieser barbarischen Praktik.
[4] Vgl. http://www.gelsenzentrum.de/kennzeichen_bildtafel.htm. Stand. 12.02.16.
[5] DeMella, Marco, Inked: Tattoos and Body Art around the World [2 volumes], 2014. S.685.
[6] Vgl. die zweite Botschaft des islamischen Revolutionsführers, Imam Chamene’i, an die westliche Jugend.
[7] Ein Name Allahs.
[8] Die zwölf Imame aus der Linie Fatimas (a.) und Imam Alis (a.)