Dass wir Taten in „halal“ und „haram“ einstufen müssen, steht außer Frage. Allerdings sind diese Kategorien häufig zu allgemein, als dass sich gläubige Muslime alleine an ihnen orientieren könnten, wie hier an einigen Beispielen gezeigt werden soll.
In der Moschee findet eine Fragerunde mit einem Gelehrten statt. Irgendwann kommt das Thema Heirat auf und jemand fragt: „Darf ich eine zweite Frau heiraten?“ – „Ja, darfst du.“ Anschließend erklärt er noch die zeitliche Beschränkung, falls sie keine Muslima ist. Frage beantwortet. Kein Ratschlag darüber, dass die Gefahr besteht, die erste Ehe, die Familienatmosphäre und das gute Verhältnis zu den Kindern zu zerstören. Diese offensichtlichen Folgen werden verdrängt. Auch von seinen muslimischen Geschwistern fehlt jede Warnung, dass er die häusliche Harmonie aufs Spiel setzt: „Solange es halal ist, lass dir von niemandem etwas sagen!“
Das wirft die Frage auf, ob sich halal wirklich als Ratgeber eignet. Selbstverständlich gilt: Wenn man an einer Weggabelung steht, an der ein Weg nach halal und der andere nach haram führt, sollte die Entscheidung immer für halal ausfallen. Doch wie oft gibt es im Leben nur diese beiden Alternativen? Zu den meisten Lebensfragen gibt es dutzende verschiedene Wahlmöglichkeiten, von denen nicht jede, die mit „halal“ betitelt ist, wirklich risikofrei ist. Es kommt noch eine weitere Schwierigkeit hinzu: Was für andere halal ist, kann für dich unter Umständen haram sein.
Ein junger Muslim fragt, ob es verwerflich sei, wenn er sich vornehme erst mit dreißig Jahren zu heiraten. Keiner wird ihm sagen, dass sein Vorhaben prinzipiell haram ist. Es kann sein, dass es für ihn nicht zur Pflicht wird, die Ehe zu suchen. Doch selbst dann hat er sein Potenzial sträflich verschwendet. Gemäß Imam Chamene’i benötigt jeder Mann, der der Gesellschaft von Nutzen sein soll, eine gute Ehefrau [1].
An dieser Stelle wüssten viele sicher gerne, was eine „gute“ Frau ausmacht. Sie ist nicht dazu verpflichtet im Haus einen Finger zu krümmen. Selbst für das Stillen ihrer Kinder kann sie von ihrem Ehemann einen Lohn verlangen. Dieses Verhalten wäre folglich halal, doch nicht förderlich. Die Ehe ist eine Einrichtung, die der Zukunft der Gesellschaft dienen soll, doch das geht nur, wenn die Partner sich gegenseitig unterstützen und an einem Strang ziehen. Wenn jeder immer mit seinen Rechten und Pflichten argumentieren würde, was wäre das für eine Ehe?
Wenn die eheliche Harmonie nachhaltig gestört ist, könnte irgendwann ein weiteres Thema zur Sprache kommen: Scheidung. Wie allseits bekannt ist, wird die Scheidung bei Allah verabscheut. Der Islam erlaubt sie dennoch ausdrücklich, da damit ein größeres Übel verhindert werden kann. Doch die Scheidungsgründe sind immer weniger gewichtig. Die Zahl der Scheidungen hat in Deutschland in den letzten Jahren zwar leicht abgenommen, aber nur, weil immer weniger Ehen geschlossen werden. In anderen Ländern, wo noch viele Ehen geschlossen werden, steigt dafür die Scheidungsrate [2]. Der Schaden für die Gesellschaft ist enorm. In Deutschland ist mittlerweile etwa jede fünfte Mutter alleinerziehend. Keine von ihnen hat sich diese Lebensform gewünscht. Fast alle wurden von ihrem Partner getrennt [3]. Rund 2,2 Millionen Kinder lebten 2010 in Deutschland in einem Haushalt mit nur einem Elternteil. Im Jahr 2000 waren es noch etwa 2 Millionen [4]. Dies sind die Folgen einer mehrere Jahrzehnte andauernden Kampagne, mit dem Ziel, die Familie zu zerstören. Dieser Trend sollte sich nicht unter Muslimen verbreiten.
Wieso ist die Scheidung dann überhaupt erlaubt worden, könnte man einwenden. Nun, manchmal ist die Scheidung eben notwendig oder sie kommt den Betroffenen zumindest so vor, was auf das Gleiche hinausläuft. Die Folgen für eine Gesellschaft, in der die Scheidung verboten ist, wären noch schlechter, wie man es in katholisch geprägten Ländern beobachten kann. In Italien galt bis vor kurzem, dass man sich erst drei Jahre nach der Trennung scheiden lassen konnte. In der Zwischenzeit leben viele Geschiedene mit ihrem neuen Partner zusammen. Diese Beziehung ist dann weder kirchlich abgesegnet (Scheidung ist in der katholischen Kirche nicht möglich), noch gilt sie in den Augen der Gesellschaft als Ehe, da sie ja auch nicht standesamtlich geschlossen werden konnte. Die Konsequenzen, die außereheliche Beziehungen mit sich bringen, bekommt letztendlich die ganze Gesellschaft zu spüren. Dies gilt auch für andere Handlungen, die aufgrund der Weisheit des Islam prinzipiell als halal eingestuft werden. Das heißt nicht, dass sie in jedem Fall unbedenklich sind.
Neben den gesellschaftlichen Schäden, die aus „Halal-Handlungen“ entstehen können, können auch für jeden einzelnen Muslim zu spirituellen Schäden entstehen. Beispielsweise ist es nicht verboten materielle Wünsche zu hegen. Doch werden wir von allen großen Gelehrten, die selbst ein bescheidenes Leben führen, gewarnt, dass diese materiellen Wünsche Schleier zu dem Licht Gottes aufbauen.
Erfolg wird im Materialismus gerne mit viel Besitz definiert. Wer reicher ist und mehr verdient, ist erfolgreicher. Diese Sichtweise vernebelt den Sinn für das wirklich Wichtige im Leben: Gott allein. In der heutigen Zeit haben die Menschen in aller Regel begriffen, dass Geld alleine nicht glücklich macht. Jemand kann zu den Superreichen gehören und trotzdem eine Leere fühlen, die er nicht ausfüllen kann, weil er nicht weiß womit. Alle Menschen sind auf der Suche nach Spiritualität, doch wird diese Suche durch materielle Wünsche behindert. Natürlich kann man hier wieder anführen: „Solange es halal ist …“. Aber nicht ohne zu missachten, wofür man geschaffen wurde.
Im Vers 119 der 11. Sura erwähnt der Qur’an, dass Allah die Menschen erschaffen hat, um ihnen eine ganz bestimmte Gnade zu gewähren. Diese Gnade ist, wie Scheich Hamza Sodagar betont, die Begegnung mit dem Herrn der Welten [5].
Wer nun auf die Begegnung mit seinem Herrn hofft, der soll gute Werke tun und bei der Anbetung seines Herrn (Ihm) niemanden beigesellen. (18:110)
In einer berühmten Antwort von Amir al-Mu’minien Imam Ali (a.) heißt es auf die Frage, ob er denn Gott gesehen hätte, dass er Gott in Allem sähe und nie einen Herrn angebetet hätte, ohne ihn gesehen zu haben. Gemäß Imam Ali (a.) ist Gott die offensichtlichste Tatsache dieser Welt, so offensichtlich wie das Licht der Himmel und der Erde. Allein unsere Blicke sind verschleiert durch die materielle Welt. Wie kann man, mit diesen Aussagen im Hinterkopf, noch guten Gewissens sagen: „Solange es halal ist, mach ruhig …“?
Dass das folgende Bild widersprüchlich ist und nicht zusammenpasst, wird jeder einsehen: Ein Mensch, der aufrichtig betet, fastet, Gottes gedenkt, keiner Macht vertraut außer Gott und in seinem Herzen nichts anderes als die Begegnung mit seinem Herrn wünscht, geht in ein Geschäft und kauft sich verschlissene Jeans, weil die gerade in Mode sind. Oder er kauft sich einen SUV, weil der mehr Eindruck macht, als sein kleiner VW. Hauptsache halal?
Hier werden viele einwenden wollen: Solange man sich von den Muharramat (Haram-Handlungen) fernhält (also nur Halal-Handlungen durchführt), wird man die höchsten Stufen des Paradieses erreichen können. Wer weiß. Immerhin soll auch Imam Chomeini bei der Eheschließung zu seiner Frau gesagt haben: „Alles, was ich von dir möchte, ist, dass du dich von den Muharramat fernhältst.“
Doch was ist eigentlich halal? Wenn der Mardscha sagt, dass diese Handlung erlaubt ist? Gerade diese einfache, traditionelle Sichtweise gilt es zu hinterfragen. Natürlich gibt es Handlungen, die für jeden haram sind, unabhängig davon, wie nah seine Seele Gott ist und wie sehr sein Herz sich Gottes Licht wünscht. Doch kann man auch über alle Halal-Taten behaupten, dass sie für jeden halal seien? Kann nicht eine jede Handlung, die zu deinem persönlichen Rückschritt auf dem Weg der Spiritualität führt, für dich verboten sein, selbst wenn die gleiche Handlung andere nicht zurückwirft oder sogar weiterbringt und daher nicht allgemein verboten ist? Dafür wird es aber keinen Katalog und kein Nachschlagwerk geben, da dies jeder selbst wissen muss.
Wenn man „halal“ nicht hinterfragt, kann man sich nicht weiterentwickeln. Ein viel besseres Kriterium wäre: Welche Handlung bringt mich Gott näher? Welche Handlung lässt mich auf die Begegnung mit meinem Herrn hoffen? Es ist also ein Umdenken mit dem Thema „halal“ notwendig.
Quellen:
[1] https://www.youtube.com/watch?v=KgjnqI8HztE [2:05]
[5] https://www.youtube.com/watch?v=_CPuDIGSrLM
Quelle : offenkundiges.de