Es sind 5 Grad, bittere Kälte herrscht auf der griechischen Urlaubsinsel Lesbos. Zu dieser Jahreszeit ist eigentlich wenig los auf der Insel. Doch seit Sommer herrscht hier Ausnahmezustand. Die Insel ist die erste Haltestelle Tausender Bootsflüchtlinge geworden. Immer mehr freiwillige Helfer aus allen Ländern kommen hierher. Sie möchten den Flüchtlingen bei ihrer Ankunft nach ihrer Todesfahrt mit den Schlauchbooten entgegenkommen. Soviel Solidarität zwischen so unterschiedlichen Nationalitäten und Religionen sieht man selten in Europa. Doch das gemeinsame Ziel, Flüchtlingen zu helfen, vereint. Hier trifft man Helfer aus den entferntesten Ländern, die sich sonst niemals treffen würden. Aus den Niederlanden, aus Finnland, Dänemark, USA, England, Tansania, China, Polen, Griechenland, dem USA und auch Deutschland.
Das Camp erinnert auf dem ersten Blick an einem Rockfestival. Nur beim zweiten Hinsehen merkt man, dass die Leute nicht freiwillig in den Zelten schlafen und wenig Spaß an der Nässe und Kälte haben. Sie kommen alle völlig erschöpft und durchnässt von den Küsten der Inseln hierher. Andere Freiwillige, die an den Küsten nächtliche Ausschau nach Booten halten, haben sie vom Meer abgefangen. Rettungsschwimmer, Mediziner und viele andere Helfer retten täglich mehrere Hundert Flüchtlinge und bringen sie sicher zu den Camps in Lesbos. Hier müssen sie auf ihre Registrierung warten. Die Flüchtlinge sind schockiert, wenn sie den Zustand des Camps sehen. Nach ihrer gefährlichen Überfahrt auf offenem Meer hatten sie sich zumindest einen warmen Schlafplatz erhofft. Stattdessen werden ihnen Decken von Helfern in die Hand gedrückt und gesagt, sie sollen sich einen Platz in den Zelten suchen.
Auch ich helfe seit einer Woche im Süden der Insel auf Camp Moria. Es ist eine Zumutung, die Familien bei dieser Kälte in den Zelten schlafen zu lassen. Doch ich bin froh ihnen wenigstens Decken und beruhigende Worte schenken zu können. Denn auf diesem Camp ist alles Mangelware. Ich bin nach Lesbos gekommen, weil ich die Bilder der kenternden Boote, der leidenden Menschen nicht mehr ertrug und wollte nicht länger untätig bleiben. Lesvos ist ja kein Krisengebiet. Es ist eine europäische Urlaubsinsel im Ausnahmezustand. Ich bin im Gegensatz zu den Flüchtlingen ungefährlich mit der Fähre angereist. Anfangs hatte ich doch ein mulmiges Gefühl, aber auf der Insel angekommen habe ich die unzähligen Freiwilligen aus aller Welt angetroffen, das hat mir Mut gemacht. Leute sind aus China, Kanada, USA und Afrika angereist um zu helfen. Es ist faszinierend zu sehen, wie Menschlichkeit alle Nationalitäten und Religionen auf einer Insel vereint.
Hilfe wird immer noch gebraucht
Doch die Situation auf der Insel bleibt prekär. Jeder Helfer wird hier dringend gebraucht. Denn die EU bleibt weiterhin untätig. Die großen Hilfsorganisationen haben lediglich ihre Zelte aufgebaut. Es fehlt an Betreuung und Service. Auch wenn es langsam aus den Medien verschwindet. Die Flüchtlingskrise ist lange nicht vorbei. Trotz des Winters kommen täglich viele Familien mit Kleinkindern in seeuntüchtigen Booten täglich durchnässt hier an. Die Kleiderschlange ist ewig lang und es gibt nicht alle passenden Größen. Herrenschuhe, Winterjacken und Rucksäcke sind besonders gefragt. Sie werden dringend für die Weiterreise über die noch kältere Balkanroute gebraucht.
Ich springe ein, wo gerade Not am Mann ist. Mal gebe ich Kleider aus, verteile warmen Tee, begleite Kranke zum Ärztezelt oder spende Trost und Mut, wann immer ich kann. Das kenne ich aus der Notfallbegleitug aus Köln. Auch dort hatte ich ehrenamtlich Einsätze beim Empfang der neu angereisten Flüchtlinge am Flughafen. Dort war es quasi ihre Endstation. Hier in Lesbos fängt ihre Europaroute erst an. Viele wissen nicht mal wo sie gestrandet sind. Sie möchten sofort weiterreisen. Ich versuche ihnen dann zu erklären, dass sie sich auf einer Insel befinden und erst die Fähre nach Griechenland nehmen müssen. Richtige Informationen für ihre Reise sind vielen Flüchtlingen wichtiger als Essen und Kleidung.
Insgesamt erreichten seit Sommer mehr als 700.000 Menschen auf diesem Weg Europa. Mehr als 3.200 Menschen kamen demnach bei ihrer gefährlichen Reise ums Leben, die meisten von ihnen Kinder. Alleine in den wenigen Tagen, in denen ich auf der Insel war, sind bei mehreren Bootsunglücken in der Ägäis mindestens elf Flüchtlinge auf dem Weg von der Türkei nach Griechenland ums Leben gekommen. Vor der Insel Lesbos setzten Rettungskräfte derweil die Suche nach Überlebenden eines Schiffsunglücks fort. Ich beobachte täglich das Meer und man erahnt von den hohen Wellen und vom starken Wind, dass es „eine harte Nacht“ werden wird. Und am nächsten Morgen erreichen uns im Camp schnell die Hiobsnachrichten von den Toten. Es ist schwer hautnah am Geschehen dran zu sein. Doch es ist schwieriger zuhause diese Nachriten zu empfangen und hilflos dazusitzen. Es beruhigt mich wenigstens meinen Beitrag Vorort zu dieser Notlage leisten zu können.
Aber auch in diesen Notzustand gibt es viele Menschen und Aktionen, die Hoffnung und Mut geben. Täglich treten eine Gruppe freiwilliger Clowns im Camp auf. Das sind die wenigen Minuten, in denen alle Helfer und Flüchtlinge ihre Sorgen für einen Moment vergessen. Auch gibt es ein Kinderzelt, welches von einer niederländischen Familien, die auf der Insel lebt, organisiert wird. Hier können Kinder in eine heile Welt eintauchen. Malen, basteln und spielen mit Quinty. Quinty, die sechsjährigen Tochter der Familie, kommt mit ihren Eltern täglich mit ins Camp. Für sie ist es selbstverständlich hier zu sein. Die Flüchtlingskinder haben nicht die Möglichkeit auf ihre Reise zu spielen. Hier können sie mit ihr spielen. Quinty ist immer für sie da. Quinty ist aufgeschlossener als jeder Erwachsene und freut sich auf jedes Kind, das hier ankommt.
In manchen Situationen stoße ich an meine Grenzen. Ich soll zwei irakischen Vätern, die türkisch sprechen, weiterhelfen. Beide haben ihre Ehefrauen auf der Überfahrt verloren und stehen völlig verzweifelt mit ihren ein- und zweijährigen Töchtern im Camp. Das ist der Moment, wo einem die Sprache fehlt. Trotzdem müssen die Väter versorgt und organisiert werden. So weh es im Herzen auch tut, es muss weitergehen. Es ist gut, dass es viel Arbeit gibt, da findet man keine Zeit über diese Schicksale nachzudenken und nach Schichtende ist man völlig erschöpft und das Gehirn schaltet sich aus.