Was soll man schon gepredigt haben? „Toleranz, Freiheit, Brüderlichkeit, Nächstenliebe“, sagt Ahmed nach dem Freitagsgebet in der Großen Moschee von Paris und zieht die Schultern hoch. „Wie in anderen Gotteshäusern auch.“
Die Normalität, die der 65-Jährige sich wünscht, ist hier weit weg: Kameras filmen, Journalisten notieren, Polizisten in schusssicherer Weste halten den Finger am Abzug. Wer auch nur in die Nähe des Eingangs möchte, muss sich von Sicherheitskräften durchsuchen lassen. Verspätete Gläubige hetzen durchnässt durch den Regen. Eigentlich hätte hier heute eine große Solidaritätskundgebung stattfinden sollen – doch die wurde aus Sicherheitsgründen abgesagt.
Gerade eine Woche ist es her, dass eine Gruppe junger Männer eine Blutspur durch Paris gezogen hat. Im Namen jener Religion, die hier Hunderte zum Gebet eilen lässt. Das lässt die Gemeinschaft nicht unberührt: Zwei Tage nach den Angriffen sang eine Gruppe von Imamen vor Kameras die französische Nationalhymne Marseillaise am Musiksaal „Bataclan“ – dem Ort, wo in der Freitagnacht die meisten Terroropfer getötet wurden.
Islamverbände verurteilten die Taten entschlossen. In sozialen Netzwerken verbreitete sich seit Anfang der Woche ein Video der Vereinigung muslimischer Studenten in Frankreich, in dem Gemeinschaft und Miteinander gefeiert werden.
In einer Predigtvorlage für das Freitagsgebet schreibt der Verband CFCM, auch Muslime könnten Ziel „blinder Gemetzel“ werden. Es gelte, „laut und deutlich zu sagen, dass der wahre Islam Lichtjahre von der Hassideologie dieser kriminellen Terroristen entfernt“ ist. Mohammed Sidi, der ebenfalls durch den Regen zum Gebet hastet, sagt: „Unter keinen Umständen kann man einfach Leute im Café erschießen, ganz egal, welche Konflikte toben.“
Religionsverdreher seien das gewesen, Leute, die den Koran nicht verstanden hätten, sagt Abdelkarim, der in einer islamischen Buchhandlung gleich neben der Moschee steht. Der Koran erlaube das Töten eines Menschen nur unter ganz speziellen Bedingungen, etwa zur Selbstverteidigung. „Ich würde lieber getötet werden als jemanden zu töten“, sagt er. Dass die Gewalt im Herzen der französischen Hauptstadt womöglich etwas mit der Gewalt im Nahen Osten zu tun habe, formuliert er vorsichtig.
Adill Dahmani hat weniger Furcht vor einem falschen Wort. Die blutigen Angriffe mit bisher 130 Todesopfern verurteilt er zwar, aber sie sind für ihn doch „eine Antwort“ auf die proamerikanische Politik seines Landes. Wo sind die Schweigeminuten für die Toten in Syrien und dem Irak?, fragt er rhetorisch in die Fernsehkameras. „Wir sollten in Frankreich Frieden schaffen, nicht in Syrien oder Mali“, wirft ein Anderer ein.
Manch einer unter Frankreichs Muslimen fühlt sich unter Rechtfertigungsdruck. „In der Metro schauen uns die Leute nicht mal in die Augen“, sagt Marie, elegant im schwarzen Kopftuch. Sie sagt, sie habe erlebt, wie die Polizei in einer Station gezielt dunkelhäutige und arabische Männer kontrolliert habe. Solch eine Aussonderung sei „untragbar“, findet sie. Eine Frau in afrikanischer Kleidung beschreibt die Stimmung mit zittriger Stimme als bedrückend, schluckt heftig unter ihrem blauen Schirm. Gezielte Anfeindungen nach den Terroranschlägen hat aber keiner der Angesprochenen erlebt.
Ahmed sieht die französische Politik in der Verantwortung. Die lasse die Jungen im Stich, schaffe nicht genug Aufstiegsmöglichkeiten, mache Muslime zu Sündenböcken. „Der soziale Aufzug funktioniert nicht“, sagt er. Die Attentäter – „Mörder, Kriminelle“ – werde auch ein halbstündiges Freitagsgebet nicht von ihrem Kurs abbringen.
Er will sich nicht mehr verteidigen müssen. „Es laugt mich aus, ich habe es satt“, sagt Ahmed. Er sei ein ganz normaler Bürger. „Ich würde lieber mit den anderen Franzosen hinter der Trikolore stehen.