Weinend schluchzt sie ins Telefon: „Ich kann nicht mehr, ich darf nicht mehr in die Schule, solange ich ein Kopftuch trage.“ Mein Herz schmerzt. Wen hat es dieses Jahr getroffen, frage ich mich? Welches Mädchen darf nun schon wieder in der Schule kein Kopftuch tragen? Es ist Leyla* aus Thun, die mit dieser schweren Situation umgehen muss. Und jedes Mal frage ich mich, warum in der schweizerischen Bundesverfassung die Religionsfreiheit hochgehalten wird, wenn diese Freiheit in der Realität doch immer aufs Neue auf dem Rechtsweg erkämpft werden muss. Aber von Anfang an.
Die 15- jährige Leyla hatte sich während des Ramadans entschieden, sich zu bedecken, um den Normen des Islams Rechnung zu tragen. Welcher Schikane sie ausgesetzt werden würde, war ihr zu diesem Zeitpunkt offenbar nicht klar. Schliesslich hat sie beste Noten und ist bei den Schülern, wie auch bei den Lehrern sehr beliebt. Am Montagmorgen im Geschichtsunterricht wird gerade passend zum sich abzeichnenden Streit noch die Religions- und Kultusfreiheit besprochen. Nur eine Stunde später erfährt Leyla, dass diese Freiheit für sie in dieser Schule keinen Platz hat. Das Mädchen wird vom Schulleiter eingeschüchtert, gezwungen das Schulhaus zu verlassen, solange sie ein Kopftuch trage. Leyla wehrt sich, argumentiert mit der Bundesverfassung und den aktuellen Rechtssprüchen. Alles hilft nichts. Leyla will aber nur dann den Weg nach Hause antreten, wenn die Schulleitung ihr schriftlich verfügt, dass sie den Schulunterricht mit Kopftuch nicht mehr besuchen dürfe. Der Schulleiter verwehrt ihr das, obwohl es seine Pflicht wäre, solch ein Schreiben auszuhändigen. Stattdessen schüchtert er Leyla ein, droht mit der Polizei. Leyla, gepackt von der Angst, geht nach Hause.
Schwieriger Kampf für ein Grundrecht
Die Eltern wie auch Leyla sind sichtlich schockiert, ratlos. „Meine Tochter würde mir nie verzeihen, wenn ich sie in dieser schwierigen Zeit alleine lassen würde. Ich stehe voll und ganz hinter ihr“, betont der Vater – so wie die ganze Familie. Leyla solle am Dienstag wieder die Schule besuchen, schliesslich habe sie keine anfechtbare Verfügung erhalten. Doch dann kommt es in der Schule zum Eklat. Ihr Lieblingslehrer ignoriert sie, indem er ihr keine Schulblätter mehr abgibt. Mit seiner Gestik will er zum Ausdruck bringen, wie dumm sie sei, welch grossen Fehler sie begehe und wohl bald diese Schule nicht mehr besuchen dürfe. Ihre Schulbücher werden vor den Augen aller Mitschüler im Schrank eingeschlossen, sodass sie Leyla nicht mehr zur Verfügung stehen. Unter Recht auf Bildung verstehen wir in der Schweiz etwas anders.
Tränen überströmt meldet sie sich bei mir im Sekretariat des Islamischen Zentralrats Schweiz (IZRS). Da wir mehrere Fälle von Diskriminierung aufgrund des Hijabs betreuen, wusste ich sehr schnell, wie in dieser Situation zu reagieren ist: Ich beruhigte sie, machte ihr verständlich, dass wir diese Situation so schnell als möglich regeln werden und machte ihr Mut, für ihr Recht mit allen legalen Mitteln zu kämpfen.
Leyla besucht seither eine Woche lang nicht den Schulunterricht nicht. Der Lehrer droht den Mitschülerinnen und Mitschülern mit „Konsequenzen“, sollten sie Leyla die Hausaufgaben und die Schulbücher nach Hause bringen. Wir sprechen mit den Eltern und versuchen über die kantonale Bildungsdirektion eine schnelle Lösung herbeizurufen. Dies sollte aber Zeit in Anspruch nehmen, da die Verwaltungen längere Prozeduren hätten. Nichts geht mehr bis Freitag, noch immer, wird Leyla trotz Druck der Eltern keine schriftliche Verfügung ausgehändigt, welche sie gerichtlich anfechten könnte. In Absprache mit den Eltern und Leyla entschieden wir uns, den Fall publik zu machen, um den Druck auf die Schulleitung zu erhöhen. Der Bericht in der „Sonntagszeitung“ schlägt hohe Wellen, Muslime empören und solidarisieren sich zugleich mit der tapferen Schülerin. Die Schule muss in der Folge einlenken. Noch am Montag stellen sie eine „Ausnahmebewilligung“ für Leyla aus. Eine kleine Anekdote: Niemand braucht eine „Ausnahmebewilligung“, um seine Religion auszuleben. Leyla darf also seit gestern wieder in die Schule, mit Kopftuch! Und das nur, weil sie ihre Rechte kannte und weil sie wusste: „Wenn ich jetzt aufgebe und nicht dagegen kämpfe, werden alle anderen Schwestern, die auch ein Kopftuch tragen wollen, darunter leiden. Aufgeben ist keine Option.“ Wie Recht die 15-jährige Schülerin nur hat und wie viel sie uns Erwachsenen beigebracht hat!
Ist es nicht unverständlich, wie ein junges Mädchen dazu genötigt wird, sich im 21. Jahrhundert in einer westlichen Gesellschaft zwischen Bildung und Religiosität entscheiden zu müssen? Ist es nicht heuchlerisch, dass Malala einen Friedensnobelpreis erhält, weil Sie für die Bildung der Mädchen in Afghanistan kämpft, während im hochzivilisierten Europa einem Mädchen der Zugang zu Bildung verwehrt wird und das nur aufgrund des Kopftuches, eines religiösen Kultus? Ist es nicht widersprüchlich, dass wir von klein auf eingetrichtert bekommen, dass wir als Frauen stark, selbstbestimmt und selbstbewusst sein sollen, und wenn wir es dann tun, von Feministinnen und intoleranten Menschen daran gehindert werden und zu einem rechtlichen Hick-Hack gezwungen werden? Wir würden unseren Hijab nicht freiwillig tragen, heisst es dann. Auch wenn ich während den Podiumsdiskussionen betone, dass der Hijab zu mir gehört und ich es mit Liebe zu Allah trage, höre ich oft folgenden Kommentar: „Du denkst nur, dass du es freiwillig trägst, aber eigentlich bist du indoktriniert und du bist dir nicht gar bewusst, dass es eben doch nicht ganz freiwillig ist.“ Meine Antwort darauf ist jeweils genervt bis angriffig: „Ich glaube, zu dieser Kurzhaarfrisur hat Sie Ihr Mann gezwungen. Wer sonst trägt freiwillig diese Frisur?“
Ein persönliches Beispiel
Mir war es während meiner kaufmännischen Lehre wichtig, mich auch während der Arbeit islamisch korrekt zu kleiden. Sprich; immer Rock und weite Kleidung, das Kopftuch über den Oberkörper. Eine Bekannte in einer anderen Abteilung nahm sich diese Gebote nicht zu Herzen und trug das Tuch um ihren Kopf so, dass man den ganzen Hals sah. Ich wurde gefragt, warum ich mich nicht moderater kleiden könne, schliesslich sei das für meine Bekannte auch kein Problem. Nun wurde ich, die bemüht war, ihre Pflichte so gut wie möglich zu erfüllen, als „radikal“ abgestempelt. Wir müssen unser Handeln stets zu Ende denken. Was wäre gewesen, wenn Leyla sich nicht gewehrt hätte? Dann hätten wir wohl an der Thuner Oberstufe bald das nächste Kopftuchverbot.
Wir muslimischen Frauen müssen zurück zu Stärke finden. Wir sollten uns nicht dafür entschuldigen, so zu sein, wie Allah uns am meisten liebt. Ja auch wir dürfen, nein wir müssen sozialkritisch sein und Missstände ansprechen. Ja, wir dürfen mit dem Kopftuch arbeiten, zur Schule gehen, schwimmen und alles was wir sonst in unserem islamischen Rahmen tun dürfen. Dafür möchten wir weder Lehrer noch Bademeister um Erlaubnis fragen. Die Islamophobie betrifft doch vor allem uns muslimischen Frauen. Dank zahlreichen grossartigen Vorbildern in der islamischen Geschichte geht uns die Hoffnung nicht so bald aus. Aus ihren Erfahrungen schöpfen wir und von ihnen lernen wir. Wie diese hier: Sieben Jahre nachdem Muhammad s.a.s von Gibril die erste Offenbarung erhielt, wurde der Prophet s.a.s und seine Gemeinschaft in das unbelebte Tal Abu Talib ausserhalb von Mekka vertrieben, wo sie ihr Camp aufschlagen mussten, um drei Jahre isoliert in der Wüste zu überleben. Diese Gemeinschaft um den Propheten s.a.s. war klein. Sie waren gerade mal 83 Muslime. Die Quraish befahlen allen, keine Geschäfte mit den Muslimen einzugehen, ihre Söhne und Töchter durften keine Muslime heiraten, keine Nahrung durfte an die Muslime verkauft werden – sie wurden völlig gemieden, unterdrückt und boykottiert.
Sie hungerten drei Jahre lang, litten Hitze am Tag und Kälte in der Nacht, sie waren obdachlos – nicht drei Tage oder drei Monate, sondern drei Jahre lang. Doch hielten sie zusammen, auch wenn sie nur 83 Muslime waren. Sie haben es geschafft, durch ihre Standhaftigkeit und ihren starken Glauben, sich aus dieser Situation zu lösen und zum Erfolg überzugehen. Wir sind heute mehrere Millionen Muslime in Europa aber lassen uns leider immer noch zu oft wie Ping-Pong Bälle hin und her schlagen.
Meine Motivation gegen diese Ungerechtigkeit zu kämpfen ist der Satz, der Muhammad s.a.s in seiner Abschlussrede sagte: „Unterdrückt nicht und lasst euch nicht unterdrücken!“
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